Zitat:

Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein. - Bertold Brecht, „Leben des Galilei“

Zitat:

Bedrohlich ist das Volk für die Herrschenden, wenn es ohne Furcht ist.“ -Tacitus (römischer Historiker)

Zitat:

Die Furcht vor Übervölkerung tritt stets in Perioden auf, in denen der bestehende Sozialzustand im Zerfall begriffen ist. August Bebel

Donnerstag, 5. Juli 2012

Staatsbürgerliche Konditionierung hat versagt!

Im Blog Kritische Massen findet sich eine interessante Einschätzung zur geplanten Tat eines verzweifelten Mannes in Nordbaden. Im Frühjahr hatte ich einen Vortrag organisiert, welcher sich mit der Problematik zunehmender Gewallt in der Gesellschaft auseinandersetzte und auf das dem Vortrag zugrundeliegende Buch (Dialektik der Entzivilisierung von Werner Seppmann) ich hier noch einmal verweisen möchte. Ich werde erst den Text aus dem Blog wiedergeben und anschließend eigene ergänzende Gedanken niederschreiben:
Vier Menschen und anschließend sich selber zu töten - das ist in Deutschland etwas, das nicht alle Tage und nicht einmal alle Jahre vorkommt. Die Tat geht seit gestern durch die Medien. Ich hörte ein paarmal Radio-Nachrichten. Da fiel mir auf, dass man sie nicht als Topnachricht brachte, sondern an fünfter Stelle. Und wenn man heute auf die BLÖD-Internet-Site klickt, steht da gar nichts davon auf der Top-Seite; stattdessen die Geschichte von dem Jungen, der sich im Sand eine Höhle gebuddelt hat und bei deren Einsturz erstickt ist. Warum wird die Bluttat so tief gehängt? Sie ist doch das gefundene Fressen für die Aasgeier von den Mainstream-Medien, möchte man meinen?
Ich vermute, dass es der Hintergrund der Tat ist, der die Meute davon abhält das Ereignis allzu hoch zu hängen. Ein Mensch soll per Zwangsräumung aus seiner Wohnung vertrieben werden. Der Mensch reagiert darauf, indem er die ehemalige Eigentümerin, den neuen Eigentümer, den Gerichtsvollzieher, den Mann vom Schlüsseldienst, den dieser mitgebracht hat, um die Wohnung bei Bedarf gegen den Willen des Bewohners öffnen zu lassen, und sich selbst um. - Den Hass und die Verzweiflung, die sich in dieser Tat ausdrücken, fühlen in Deutschland jedes Jahr Tausende von Menschen. Jeden Tag werden Wohnungen zwangsgeräumt. Immer geht es dabei nach Recht und Gesetz zu. Aber jemandem das Dach überm Kopf zu nehmen bedeutet für den Betroffenen Obdachlosigkeit, im noch besten Fall die Unterbringung in einer kommunalen Notunterkunft oder das vorübergehende Unterkommen bei Freunden. Neben Essen und Trinken und der Notwendigkeit sich zu kleiden, gibt es nichts Elementareres als ein Dach überm Kopf. Sich gefallen zu lassen, dass es einem genommen wird, weil es nach "Recht und Gesetz" zugeht, setzt eine Anpassungsbereitschaft und Unterwerfung unter die Verhältnisse voraus, das stark genug ist, sich sogar mit dem Entzug des Allerelementarsten abzufinden.
Diese staatsbürgerliche Konditionierung hat in diesem Fall versagt. Sie funktioniert so gut wie immer, aber diesmal hat sie versagt. Der Mann hat sich nicht selber gesagt: Ich bin ja selber schuld, jetzt muss ich halt die Konsequenzen tragen. Er hat seinen Hass und seine Verzweiflung nicht am eigenen Versagen und am "Das darf man doch nicht" relativiert. Die alte Eigentümerin, der neue Eigentümer, der Gerichtsvollzieher und dessen Hilfskraft wollten ihm etwas absolut Elementares nehmen - und er hat sie deswegen erschossen. Er hat keineswegs blind getötet. Den Sozialarbeiter hat er laufen lassen.
Das macht die Hüter der bürgerlichen Wohlanständigkeit kleinlaut. Das lässt sie das voyeuristische Angebot vorziehen, dass das Unglück des im Sand buddelnden Jungen hergibt. Dabei hätte man die Bluttat in ein Beziehungsdrama umschreiben können. Die getötete ehemalige Besitzerin war ja angeblich die Freundin des Täters. Aber das Thema Wohnen als unabdingbares Bedürfnis und die Verächtlichkeit von "Recht und Gesetz" diesem Bedürfnis gegenüber ist doch zu offensichtlich. Und das ist ein gefährliches Thema.
Die Zeiten werden härter. Die staatsbürgerliche Unterwerfung ist jeden Tag bei Tausenden Menschen einem Stresstest ausgesetzt; der Drecksjob für einen Lohn, von dem man nicht leben kann; die Entlassung aus "betriebsbedingten Gründen" - aber der Chef fährt den dicken Mercedes und wohnt in seiner noblen Villa; das Maulhalten und Schlucken in der Arbeit - bloss nicht Mucken, sonst bist du der nächste, der gehen muss; das leere Konto nach drei Wochen des Monats; die Scham, sich Lebensmittel von der "Tafel" geben lassen zu müssen; das "Es geht gerade noch so" und "Ich weiss eigentlich nicht mehr ein und aus" ... Es sind inzwischen an die zehn Millionen Menschen in Deutschland, die so arm sind, dass sie sich nicht selber durchbringen können. Und noch viel mehr Menschen müssen sich, um sich selber durchzubringen, Sachen gefallen lassen, die eigentlich jenseits aller Grenzen der Zumutbarkeit liegen. - Da braut sich was zusammen. Wenn einer ausrastet, ist das ein Warnsignal.
Ach, es geht schon noch. Vielleicht kommen ja wieder bessere Zeiten. So wie in Mexiko City ist es noch lange nicht: Da sind die besseren Wohnviertel umzäunt und am Eingang zur Wohnstrasse gibt es eine Schranke und ein Wärterhäuschen. "Besser" ist da schon, sich in einem Block eine Zweizimmer-Wohnung europäischen Standards und den Käfer auf dem geschützten Parkplatz leisten zu können. Die Reichen leben auf ummauerten Grundstücken, das ihre Kinder niemals ohne Bewachung verlassen dürfen. Ach, da ist es bei uns in Deutschland noch Gold. Aber irgendwie geht es mit der deutschen Gemütlichkeit zu Ende. Das schon, nicht wahr ?
Übrigens, fällt mir gerade ein: Die kommunistische Partei Spaniens hat auf einer Konferenz im Juni eine Resolution folgenden Inhalts beschlossen: Die Partei und ihre Mandatare in den Kommunen wollen durchsetzen, dass öffentliche Flächen für den Anbau von Gemüse benutzt werden können und dass die Gemeindeverwaltungen den Bürgern mit Fachleuten dabei hilft, Gemüse auf dem Balkon zu ziehen. Das sei dringlich, weil viele Familien sich nicht mehr genügend Lebensmittel kaufen können. Die spanische Gemütlichkeit ist schon vorbei. Und die deutsche geht zu Ende.

Folgende Text habe ich zu obigen Text als Kommentar hinterlassen:

Hallo Sepp,
ich gehe einmal davon aus, dass Du nichts dagegen hast wenn ich Deinen Text übernehme.
Meines Erachtens ist davon auszugehen, dass er den Schlosser auch hätte laufen lassen, wenn dieser nicht versucht hätte den Helden zu spielen, er ist letztlich verblutet, weil Hilfe nicht schnell genug da war.
Wie dem auch sei, soll Mensch nun entsetzt sein? Warum? Wenn schon entsetzt, dann über die schießwütigen Polizisten, welche aus überlegener Position, (zwei gegen einen, selbst mit Pistolen bewaffnet gegen ein Messer) einen Menschen einfach abknallen. Letzterer Fall sorgte nicht unbedingt für Schlagzeilen, in der Jungen Welt ist darüber zu lesen, da auch diese Tat in Nordbaden und am selben Tag stattfand. Die andere Geschichte, … nun ja, der Schlosser kann einen leidtun, aber musste er den Helden spielen und warum? Immerhin konnte der Sozialarbeiter gehen, das war nicht die Zielgruppe des Täters, der richtete sich gegen seine vermeidlichen Peiniger. Und was ist zu erwarten, in einer Gesellschaft, wo Besitz und Geld mehr zählen als Menschen? Wo Menschen in die Enge getrieben werden und letztlich keinen Ausweg mehr für sich sehen, da muss sich doch eigentlich keiner über solche Reaktionen wundern!?
Der Tod gehört zum Leben und ein System welches Soldaten in die Welt hinausschickt um Menschen zu töten, braucht ein Klima welches solche Gewallt fördert! Die Geister die gerufen wurden, entfalten ihre Wirkung und das auch in ungewollte Richtung!
An erster Stelle steht das Thema nicht, so reißerisch eine Schlagzeile auch ist, neigt sie doch immer auch zum Nachahmen der Tat bei Menschen in ähnlicher Situation, welche sich ansonsten unschlüssig sind. Es war auch keine Tat im Affekt, ganz im Gegenteil, sie war geplant, vorbereitet und der Täter, welcher hier eigentlich Opfer gesellschaftlichen Seins ist, sich der Folgen bewusst! Im Falle solch konsequenten Handelns nutzen auch keine Spezialeinsatzkommandos etwas, ehe die vor Ort sind, aus Angst Opfer verbluten lassen, sind alle Messen gesungen. Konsequenz solcher Tat wird in Zukunft wahrscheinlich sein, dass einem jeden Gerichtsvollzieher Polizisten zur Seite gestellt werden.
Aber so nachvollziehbar die Tat dieses Menschen auch ist, sie wird am grundsätzlichen Problem des menschenverachtenden Charakters des Systems des Kapitals nichts ändern, sie wendet sich nicht gegen die eigentlichen Ursachen, sondern nur gegen die Werkzeuge. Und so läutet sie höchstens eine neue Phase des Ausbaus repressiver Gewallt ein, welche mit einem Ausbau des Repressionsapparates verbunden sein wird. Letzteres ist ohnehin geplant, erinnert sei an die Diskussionen des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen