Im
Blog Kritische Massen
findet sich eine interessante Einschätzung
zur geplanten Tat eines verzweifelten Mannes in Nordbaden. Im
Frühjahr hatte ich einen Vortrag
organisiert, welcher sich mit der Problematik zunehmender Gewallt in
der Gesellschaft auseinandersetzte und auf das dem Vortrag
zugrundeliegende Buch (Dialektik der Entzivilisierung von Werner
Seppmann) ich hier noch einmal verweisen möchte. Ich werde erst den
Text aus dem Blog wiedergeben und anschließend eigene ergänzende
Gedanken niederschreiben:
Vier
Menschen und anschließend sich selber zu töten - das ist in
Deutschland etwas, das nicht alle Tage und nicht einmal alle Jahre
vorkommt. Die Tat geht seit gestern durch die Medien. Ich hörte ein
paarmal Radio-Nachrichten. Da fiel mir auf, dass man sie nicht als
Topnachricht brachte, sondern an fünfter Stelle. Und wenn man heute
auf die BLÖD-Internet-Site klickt, steht da gar nichts davon auf der
Top-Seite; stattdessen die Geschichte von dem Jungen, der sich im
Sand eine Höhle gebuddelt hat und bei deren Einsturz erstickt ist.
Warum wird die Bluttat so tief gehängt? Sie ist doch das gefundene
Fressen für die Aasgeier von den Mainstream-Medien, möchte man
meinen?
Ich
vermute, dass es der Hintergrund der Tat ist, der die Meute davon
abhält das Ereignis allzu hoch zu hängen. Ein Mensch soll per
Zwangsräumung aus seiner Wohnung vertrieben werden. Der Mensch
reagiert darauf, indem er die ehemalige Eigentümerin, den neuen
Eigentümer, den Gerichtsvollzieher, den Mann vom Schlüsseldienst,
den dieser mitgebracht hat, um die Wohnung bei Bedarf gegen den
Willen des Bewohners öffnen zu lassen, und sich selbst um. - Den
Hass und die Verzweiflung, die sich in dieser Tat ausdrücken, fühlen
in Deutschland jedes Jahr Tausende von Menschen. Jeden Tag werden
Wohnungen zwangsgeräumt. Immer geht es dabei nach Recht und Gesetz
zu. Aber jemandem das Dach überm Kopf zu nehmen bedeutet für den
Betroffenen Obdachlosigkeit, im noch besten Fall die Unterbringung in
einer kommunalen Notunterkunft oder das vorübergehende Unterkommen
bei Freunden. Neben Essen und Trinken und der Notwendigkeit sich zu
kleiden, gibt es nichts Elementareres als ein Dach überm Kopf. Sich
gefallen zu lassen, dass es einem genommen wird, weil es nach "Recht
und Gesetz" zugeht, setzt eine Anpassungsbereitschaft und
Unterwerfung unter die Verhältnisse voraus, das stark genug ist,
sich sogar mit dem Entzug des Allerelementarsten abzufinden.
Diese
staatsbürgerliche Konditionierung hat in diesem Fall versagt. Sie
funktioniert so gut wie immer, aber diesmal hat sie versagt. Der Mann
hat sich nicht selber gesagt: Ich bin ja selber schuld, jetzt muss
ich halt die Konsequenzen tragen. Er hat seinen Hass und seine
Verzweiflung nicht am eigenen Versagen und am "Das darf man doch
nicht" relativiert. Die alte Eigentümerin, der neue Eigentümer,
der Gerichtsvollzieher und dessen Hilfskraft wollten ihm etwas
absolut Elementares nehmen - und er hat sie deswegen erschossen. Er
hat keineswegs blind getötet. Den Sozialarbeiter hat er laufen
lassen.
Das
macht die Hüter der bürgerlichen Wohlanständigkeit kleinlaut. Das
lässt sie das voyeuristische Angebot vorziehen, dass das Unglück
des im Sand buddelnden Jungen hergibt. Dabei hätte man die Bluttat
in ein Beziehungsdrama umschreiben können. Die getötete ehemalige
Besitzerin war ja angeblich die Freundin des Täters. Aber das Thema
Wohnen als unabdingbares Bedürfnis und die Verächtlichkeit von
"Recht und Gesetz" diesem Bedürfnis gegenüber ist doch zu
offensichtlich. Und das ist ein gefährliches Thema.
Die
Zeiten werden härter. Die staatsbürgerliche Unterwerfung ist jeden
Tag bei Tausenden Menschen einem Stresstest ausgesetzt; der Drecksjob
für einen Lohn, von dem man nicht leben kann; die Entlassung aus
"betriebsbedingten Gründen" - aber der Chef fährt den
dicken Mercedes und wohnt in seiner noblen Villa; das Maulhalten und
Schlucken in der Arbeit - bloss nicht Mucken, sonst bist du der
nächste, der gehen muss; das leere Konto nach drei Wochen des
Monats; die Scham, sich Lebensmittel von der "Tafel" geben
lassen zu müssen; das "Es geht gerade noch so" und "Ich
weiss eigentlich nicht mehr ein und aus" ... Es sind inzwischen
an die zehn Millionen Menschen in Deutschland, die so arm sind, dass
sie sich nicht selber durchbringen können. Und noch viel mehr
Menschen müssen sich, um sich selber durchzubringen, Sachen gefallen
lassen, die eigentlich jenseits aller Grenzen der Zumutbarkeit
liegen. - Da braut sich was zusammen. Wenn einer ausrastet, ist das
ein Warnsignal.
Ach,
es geht schon noch. Vielleicht kommen ja wieder bessere Zeiten. So
wie in Mexiko City ist es noch lange nicht: Da sind die besseren
Wohnviertel umzäunt und am Eingang zur Wohnstrasse gibt es eine
Schranke und ein Wärterhäuschen. "Besser" ist da schon,
sich in einem Block eine Zweizimmer-Wohnung europäischen Standards
und den Käfer auf dem geschützten Parkplatz leisten zu können. Die
Reichen leben auf ummauerten Grundstücken, das ihre Kinder niemals
ohne Bewachung verlassen dürfen. Ach, da ist es bei uns in
Deutschland noch Gold. Aber irgendwie geht es mit der deutschen
Gemütlichkeit zu Ende. Das schon, nicht wahr ?
Übrigens,
fällt mir gerade ein: Die kommunistische Partei Spaniens hat auf
einer Konferenz im Juni eine Resolution folgenden Inhalts
beschlossen: Die Partei und ihre Mandatare in den Kommunen wollen
durchsetzen, dass öffentliche Flächen für den Anbau von Gemüse
benutzt werden können und dass die Gemeindeverwaltungen den Bürgern
mit Fachleuten dabei hilft, Gemüse auf dem Balkon zu ziehen. Das sei
dringlich, weil viele Familien sich nicht mehr genügend Lebensmittel
kaufen können. Die spanische Gemütlichkeit ist schon vorbei. Und
die deutsche geht zu Ende.
Folgende
Text habe ich zu obigen Text als Kommentar hinterlassen: