Im folgenden ein Text von Ernst Wimmer, welchen ich mit Vorwort von Sepp
Aigner von dessen Seite übernehme. Meines Erachtens enthält der Text
wesentlich mehr, als „nur“ der Überschrift zum Vorwort und Text zu
entnehmen ist. Grundsätzlich werden wichtige Punkte kommunistischer
Bewegtheit angesprochen. Gerade die Aussagen zu Hegemonie, zur führenden
Rolle der Partei der Arbeiterklasse und zum dritten Weg sind
beachtenswert und hochaktuell. Er zeigt auch, wie komplex Klassenkampf
ist und bei aller objektiven Bedingtheit es auf das bewusste,
zielorientierte Handeln der Menschen ankommt. Hier nun der Text mit Vorwort von Sepp Aigner und entsprechenden Quellenverweisen:
Gramsci und die Revolution
Von Ernst Wimmer
Je
tiefer die Krise des Kapitalismus, je erbitterter und komplizierter der
ideologische Kampf, je stärker Versuchungen zu „dritten Wegen”, Umwegen
und Ausflüchten, desto häufiger werden — ganz verlässlich — auch
Versuche, hervorragende Revolutionäre irgendwie noch als „Zeugen” gegen
ihre revolutionäre Sache zu zitieren. Freilich meist, indem man sie
lediglich mit ein paar Sätzen zu Wort kommen lässt, diese gegen ein
Lebenswerk kehrt und alles andere, dabei Störende, nach Kräften
unterschlägt oder entstellt. Schon klassisches Beispiel dafür ist die
Legende um Rosa Luxemburg. Erbitterte Gegner jeder sozialistischen
Umwälzung, die ihren Vorteil in den Kittelfalten des Kapitals suchen und
anderen davon Geborgenheit versprechen, sind heute erst recht bemüht,
Rosa als Skeptikerin gegenüber der Arbeitermacht hinzustellen, obgleich
sie vor 60 Jahren gerade deshalb ermordet wurde, weil sie ohne Schwanken
zielstrebig für die Errichtung der Arbeitermacht eintrat, den Kampf,
die dafür nötige Partei organisierte. Ähnliches wird nun, wenn auch aus
verschiedenen Motiven, mit verschiedenen Mitteln schon seit geraumer
Zeit mit Antonio Gramsci versucht. Mit jenem Gramsci, dessen Leben in
den Kerkern des Mussolini-Faschismus vorsätzlich zerstört wurde, weil
man seine Unbeugsamkeit als Revolutionär kannte und fürchtete. („Wir
müssen dieses Hirn 20 Jahre am Denken hindern”, sagte der faschistische
Staatsanwalt unverblümt vor dem Gericht, das gehorsam Gramsci zu 20
Jahren Kerker verurteilte.)
Die
Flut von Büchern, Monographien und Artikeln, die in den letzten Jahren
über Gramsci erschien, hat Österreich nur mit Ausläufern erreicht. Mit
der „Tendenzwende” auch in unserem Land, mit einer verstärkten Suche
nach einer gesellschaftspolitischen Alternative, welche die absolute
SP-Mehrheit nicht gebracht hat, wird sich auch dies ändern. Denn die
Mehrzahl dieser Publikationen wurde weniger mit der Absicht verfasst,
Probleme wiederzugeben, zeitbezogen zu untersuchen, die Gramsci
beschäftigt hatten, als mit dem Vorsatz, ihn einmal für dieses, ein
andermal für jenes, oft völlig Unvereinbares zu reklamieren.
Gramscis „Gefängnisschriften”
Dem
strapazierten Leser wollen wir eine Aufzählung all dessen ersparen,
wofür Gramsci schon bemüht worden ist. Aber eine kurze Skizze sind wir
schuldig. Einmal wird er zum „letzten großen Repräsentanten der
radikal-demokratischen Tradition Italiens” verharmlost, ein andermal in
die Nachbarschaft des Vaters des Revisionismus, Bernstein, gerückt, ja
gar als dessen „Systematisierer” gelobt, um desto besser verleumden zu
können. Einmal will man bei ihm eine Geistesverwandtschaft mit „dem”
Austromarxismus entdecken (als ob es je einen einheitlichen gegeben
hätte), ein andermal die „Vaterschaft des Eurokommunismus”, eines
„völlig neuen dritten Weges”. Ob man ihn — den unbändigen, weil
nüchternen revolutionären Optimisten, den Verkünder der
Unentbehrlichkeit der Kultur für die Revolution — mit dem
Kulturpessimismus Adornos oder Marcuses zusammenpendeln will oder als
hochbegabten, aber zufällig in die Politik verschlagenen Philologen oder
Philosophen präsentiert: All das hat ungeachtet der Unterschiedlichkeit
der Motive letztlich den nämlichen Zweck: den Leninisten Gramsci in
Gegensatz zum Leninismus, zur Kommunistischen Internationale zu bringen,
zu deren markantesten Vertretern er zählte.
Wo
liegen Ansatzpunkte für willkürliche Interpretationen, für
Entstellungen? In Gramscis Ausgangspunkt als idealistischer Philosoph,
in seiner Entwicklung von einem führenden Funktionär der Sozialistischen
Partei, also der II. Internationale, zu einem Führer der
Kommunistischen Partei, also der III. Internationale. In der
Besonderheit eines Teils seines Werks. In der Tatsache, dass Gramsci
unter bedrückendsten Bedingungen, in Kerkerhaft, in einer dadurch
erzwungenen „Sklavensprache”, die den Verzicht auf die marxistische
Terminologie gebot, solche Umschreibungen wie soziale Gruppen” statt
„Klassen” oder „Philosophie der Praxis” statt „Marxismus”, dass Gramsci
unter diesen Bedingungen — eine imponierende Leistung — fast 3 000
Seiten Aufzeichnungen verfasste; Fragmente, Skizzen, Überlegungen, weil
die Situation nichts anderes erlaubte. Einige tausend Seiten zur
Selbstverständigung. Ein Herausgreifen von Problemen, ein Weiterspinnen
von Entwicklungsfäden, ohne Zwang zur Ausgewogenheit und
Berücksichtigung sämtlicher Zusammenhänge, ohne Möglichkeit, dieses
Denken auf das — draußen — unmittelbar nötige Handeln der Bewegung zu
beziehen. Darin liegt ein besonderer Reiz, eine ungemein anregende
Kraft. Freilich auch die Möglichkeit zur falschen Akzentuierung,
Kommentierung, zur Entstellung, zur Missdeutung.
Diese
„Gefängnisschriften”, deren Veröffentlichung in den fünfziger Jahren
großes Aufsehen hervorrief, die mit dem höchsten italienischen
Literaturpreis ausgezeichnet wurden, haben — nicht zufällig — Gramscis
Arbeiten aus jener Zeit überschattet, als er noch politisch in der
Leitung der KPI und in der Kommunistischen Internationale tätig sein
konnte. Die Leitlinie in diesem Werk — sagte Togliatti, Gramscis engster
Kampfgefährte, dazu— kann man nur in der realen Tätigkeit Gramscis
finden. Sämtliche Fragestellungen, Sondierungen, Überlegungen der
„Gefängnisschriften”, alle hängen ursächlich mit Gramscis Hauptwerk
zusammen: dem Aufbau der Kommunistischen Partei, seinen Bemühungen um
ihre Bolschewisierung. Eben diese innere Einheit unterstrich Togliatti,
als er (auf der Konferenz über Gramsci in Rom, Jänner 1958, in seinem
Beitrag „Der Leninismus im Denken und Handeln von Antonio Gramsci”)
sagte: „Gramsci war ein Theoretiker der Politik, vor allem aber war er
ein praktischer Politiker, dass heißt ein Kämpfer. In der Politik muss
die Einheit des Lebens von Antonio Gramsci gesucht werden: Der Ausgangs-
und Endpunkt, die Suche, der Kampf, das Opfer sind Momente dieser
Einheit.”1
Der Fatalismus des Austromarxismus — im Gegensatz zu Gramsci
Wir
wollen uns hier lediglich auf eine Frage konzentrieren, die in
Zusammenhang mit unserer Programmdiskussion und den Legenden über
Gramsci als Ahnherr dritter Wege” aktuelle Bedeutung erlangt: seinen
Beitrag zur Revolutionstheorie, sein Verhältnis zum Leninismus. Solche
Konzentration verlangt weniger Verzichte, als man meinen könnte. Ohne
Übertreibung kann man sagen: Gramscis Denken und Handeln waren von einer
zentralen Frage bestimmt: Wie kommt man unter anderen Bedingungen zum
gleichen Sieg wie die Bolschewiki, zur Revolution? Ob er die politische
Theorie Machiavellis untersuchte, die Probleme der politischen Führung
bei der Bildung und Entwicklung der italienischen Nation, ob die
Formierung von „historischen Blöcken” oder den „Amerikanismus”, den
„Fordismus” und „Taylorismus” — so grundverschieden die Themen, alles
wird in den Dienst der gleichen Aufgabe gestellt, alles kreist um
dieselben Fragen: Wie, unter welchen Bedingungen gelangt eine Klasse zur
politisch ideologischen Führung? Mit welchen Mitteln stützt eine
herrschende Klasse ihre Machtausübung ab? Was bewirkt, dass die Ideen
der Herrschenden in der Regel die vorherrschenden sind?
Wie
kann man diese Vorherrschaft schwächen, schließlich brechen, wie zur
politisch-ideologisch-moralischen Hegemonie der Arbeiterklasse in einem
System von politisch-sozialen Bündnissen gelangen, die Voraussetzung für
eine Machtergreifung und für Machtausübung ist? Alles mündet in die
Frage: Wie kommen wir zur Revolution? Und so trennen Welten Gramsci von
jenen, die bei ihm Beweise dafür finden wollen, dass eine Revolution gar
nicht nötig sei, durch irgendeinen Abschneider” oder „dritte Wege”
überflüssig werde.
Zuweilen
wird Gramsci als Gegner des orthodoxen Marxismus hingestellt. Prüfen
wir, gegen welche „Orthodoxie” er sich wandte. Vehement gegen die in der
Internationale damals herrschende „Orthodoxie” vom Schlag Kautskys,
gegen jenen Vulgär-Ökonomismus — Gramsci bezeichnete ihn als
„Infantilismus” —, der allein von der Entwicklung der Produktivkräfte
den automatischen, den unaufhaltsamen Sieg des Sozialismus versprach.
Gegen jene „Orthodoxie”, die — sich fälschlich auf Marx berufend — eine
sozialistische Revolution im rückständigen Russland für eine
„Unmöglichkeit”, ja den Versuch für „Unfug” erklärte. Gramsci war gegen
jene „Orthodoxie”, die aus dem Marxismus eine „Lehre von der Untätigkeit
des Proletariats” macht. Und wer war der unversöhnlichste, gewandteste,
überlegene Gegner dieser „Orthodoxie”, dieser Buchstabengelehrsamkeit
ohne revolutionären Atem? Lenin!
Gegen
„Päpste” wie Kautsky, die sogar Marx zum Zeugen gegen revolutionäres
Handeln machen wollten, die „ganz wissenschaftlich” den Eindruck
erwecken wollten, als werde die Entwicklung der Produktivkräfte von
selber die Eigentumsverhältnisse umwälzen, machte Lenin geltend: Marx
hat die Unvermeidlichkeit der Umwandlung der kapitalistischen
Gesellschaft in die sozialistische einzig und allein aus dem
ökonomischen Bewegungsgesetz der Gesellschaft abgeleitet. Aber Marx
hielt Materialismus ohne die revolutionäre praktische Tätigkeit für
„halb, einseitig und leblos”2. Es gehört ein starke Dosis Ignoranz oder
Unverfrorenheit dazu, Gramsci in die Nähe des Austromarxismus zu rücken,
der in allen Varianten einen Fatalismus pflegte, der dauernd von einem
„ehernen Muss” der Geschichte sprach, um zu folgern, dass die Partei
nicht müsse, ja die Massen gar nicht dürften.
Gramsci und die Bolschewiki
Im
Mittelpunkt von Gramscis Denken steht die Problematik der Hegemonie des
Proletariats. Keineswegs als irgendein Ersatz für die Revolution, für
Machtergreifung, sondern als Voraussetzung dafür. Bewusst stellt er sich
in die Tradition Leninschen Denkens. Gramsci selbst definiert einmal
den Leninismus als „Lehre von der Hegemonie des Proletariats”. Er
würdigt, dass der wichtigste theoretische Beitrag — auf diesem Gebiet —
von Lenin stammt. Noch aufschlussreicher ist Gramsci Charakterisierung
der Rolle Lenins in seinen „Gefängnisschriften”: „Der größte moderne
Theoretiker der ,Philosophie der Praxis’ hat auf dem Gebiet der
politischen Organisation und des Kampfes gegen die verschiedenen
,ökonomischen’ Tendenzen die Front des aktuellen Kampfes, politisch
verstanden, aufgewertet und die Lehre von der Hegemonie als Ergänzung
zur Theorie des Gewaltstaates… entwickelt.” Wohlgemerkt, die Hegemonie
nicht als Zaubermittel, das den Gewaltstaat in Dunst auflöst, sondern
als Voraussetzung, um mit ihm fertig zu werden. Was imponiert Gramsci
vor allem am Beispiel der Bolschewik!? Dass sie nicht nur die Theorie
von der Hegemonie der Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen Schichten
entwickelten, sondern auch das unerlässliche Mittel dazu: eine
revolutionäre Partei, die nicht in den Massenbewegungen aufgeht, sondern
richtungweisend, vorantreibend in ihnen wirkt: „Die einzige Partei (in
der II. Internationale), die so sich vor der Degenerierung rettete, ist
die Partei der Bolschewiki, der es gelang, sich an der Spitze der
Arbeiterbewegung des eigenen Landes zu behaupten, weil sie aus ihren
Reihen die antimarxistischen Strömungen ausschloss und mit Hilfe der
Erfahrungen aus drei Revolutionen den Leninismus ausarbeitete, der der
Marxismus der Epoche des Monopolkapitals, der imperialistischen Kriege
und der proletarischen Revolution ist…”3
Das
Verhältnis zwischen Hegemonie der Klasse und Funktion der
revolutionären Partei ist ungemein kompliziert, nicht mit einem Zitat zu
klären. Außer Zweifel steht jedoch: Wo immer man versucht, die führende
Rolle der Partei in Gegensatz zu Erringung der Hegemonie der Klasse zu
bringen, bricht man mit Gramscis Denken.
Zur Strategie und Taktik
Am
klarsten formulierte Gramsci seine Position zur Hegemonie in der
unvollendeten gebliebenen Schrift „Einige Gesichtspunkte der
süditalienischen Frage”: „Das Proletariat kann in dem Maß zur führenden
und herrschenden Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von
Klassenbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der
werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen
Staat zu mobilisieren; und dies bedeutet in Italien, … die Zustimmung
der breiten Massen der Bauern zu erlangen.”4 Die „Frage der Hegemonie
des Proletariats” ist die „Frage der sozialen Basis der proletarischen
Diktatur und des Arbeiterstaates”.5
Was
ist eigentlich das wesentlichste und das originellste in Gramscis
revolutionstheoretischen Überlegungen? Seine Folgerung aus der konkreten
Situation in seinem Land: Frontalangriff ist lediglich eine Form des
Kampfes. Man verdammt sich zur Isolierung oder zur Niederlage, wenn man
es nicht versteht, andere, auch den kompliziertesten Kampfbedingungen
angemessene Methoden zu entwickeln und zu meistern. Wiederholt hat Lenin
zu bedenken gegeben: In rückständigen Ländern siegt die Revolution
relativ leicht, ja ist sie zuweilen ein „Kinderspiel”. Aber ungemein
schwer fällt es dort, eine neue Gesellschaft aufzubauen. In
hochentwickelten Ländern ist eine neue Gesellschaft rascher, wirksamer,
mit geringerer Mühsal, mit geringeren Opfern zu errichten. Aber wie
schwer fällt es, an die Revolution heranzukommen. Gramsci geht von
dieser Erkenntnis aus: „In Mittel- und Westeuropa hat die Entwicklung
des Kapitalismus nicht nur zur Bildung von breiten proletarischen
Schichten geführt, sondern auch und gerade deshalb eine Oberschicht, die
Arbeiteraristokratie, mit ihren Anhängseln, der Gewerkschaftsbürokratie
und der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, geschaffen. Das
bestimmende Moment, das in Russland direkt war und die Massen auf die
Straße zum revolutionären Sturmangriff trieb, komplizierte sich in
Mittel- und Westeuropa durch all diese vom entwickelten Kapitalismus
geschaffenen Überbauten, macht die Aktion der Massen langsamer und
vorsichtiger und erfordert daher von der revolutionären Partei eine
weitaus komplexere und langfristigere Strategie und Taktik als die,
welche in der Zeit zwischen März und November 1917 für die Bolschewik!
notwendig war.”6
Um
diese Strategie und Taktik entwickeln zu können, konzentrierte Gramsci
sich auf die Analyse der „Überbauten”, auf die Ergründung all der
Faktoren, die außer den Unterdrückungsgewalten des Staates, ja oft sogar
diese verdeckend, auf mannigfaltigste Weise das bestehende System
abstützen, die Aktion der Massen erschweren, der Herausbildung von
Bündnissen entgegenwirken, also die Erringung einer Hegemonie der
Arbeiterklasse hemmen oder blockieren. Zur Charakterisierung der
langwierigen Phase des Kampfes um die Köpfe, um einzelne Positionen und
Organisationen, entlehnte Gramsci der Militärterminologie die
Bezeichnung „Stellungskrieg”. Er hielt diesen Stellungskrieg für
unausweichlich in hochentwickelten kapitalistischen Ländern, aber
keineswegs für das einzig mögliche Mittel. Es heißt, gegen das
Grundkonzept des Revolutionärs Gramsci verstoßen, sich gegen seinen
Zweck kehren, wenn man ihm Beschränkung auf ein alleinseligmachendes
Mittel andichtet, die er als Beschränktheit bekämpfte.
Der
Kern der Überlegungen, die Gramsci — anknüpfend an Lenins Theorie vom
Staat und der Hegemonie der Arbeiterklasse — nach Abebben der großen
revolutionären Welle in Europa im Gefolge des Roten Oktober entwickelte,
besagt: In hochentwickelten kapitalistischen Ländern führt der Weg zur
Entmachtung des Kapitals nur über die Hegemonie. Doch um in einem System
von Bündnissen politisch, moralisch, ideologisch führend zu werden,
bedarf es für die Arbeiterklasse der Ergründung möglichst aller
Elemente, mit deren Hilfe die herrschende Klasse das Bewusstsein der
Menschen beeinflusst, formt, deformiert: von Parteien, der Kirche, den
Schulen, den besonders dynamischen Medien, über Vereine bis hin zu
Theatern, Bibliotheken, bis zur Architektur, der Anlage von Straßen und
deren Namen.
Dazu
bedarf es der Entwicklung der Fähigkeiten, das Aufgreifen und die
Vertretung berechtigter mannigfaltiger Interessen im Kampf zumindest an
den wichtigsten Frontabschnitten mit der Bewusstseinsbildung zu
verknüpfen, um bestehen und siegen zu können. Doch Hegemonie ist noch
nicht Sieg. Nur Voraussetzung für das Schwerste, Riskanteste: Die
Entscheidung im Kampf um die Macht.
Sämtliche
Erfinder, Verkünder, Sucher neuer oder alter „dritter Wege” sagen
grundsätzlich anderes als Gramsci, mögen ihre soziale Basis, ihre
politische Wirkung im nationalen und internationalen Rahmen noch so
unterschiedlich sein. Nämlich: Ist die Hegemonie errungen, ist das Ziel
so gut wie erreicht. Und zuweilen wird diese Hegemonie auf eine bloße
parlamentarische Linksmehrheit eingeschrumpft, ohne Rücksicht auf ihren
inneren Zusammenhalt, ihre vorherrschende Zielsetzung und soziale
Sprengkraft.
Wünsche
werden leicht zu Vätern falscher Gedanken: So der Wunsch, das
Riskanteste, Ungeheure, irgendwie umgehen zu können, zum Vater „dritter
Wege”; der Hypothese, für die es in der Geschichte noch keinen einzigen
Beweis gibt: Zerfällt die Hegemonie des Gegners, fällt auch seine Macht
wie ein Kartenhaus in sich zusammen oder wenigstens stückweise von
selber. Die „theoretische Untermauerung”, die Absicherung solcher
Wunschgedanken, solcher Illusionen verlangt allemal eine Entstellung der
marxistischen Staatstheorie. Etwa die Unterstellung, die Klassiker —
Marx, Engels, Lenin — hätten im Staat nur ein Organ der Gewalt und sonst
gar nichts gesehen. Unvergleichlich bequemer lässt sich dann
argumentieren: Weil die Macht des Kapitals sich auf die Vorherrschaft
bürgerlicher Meinungen stützt, fällt diese Macht im Augenblick, da diese
Stütze bricht. Mittlerweile gibt es unzählige Exemplare dieses
Argumentationsmusters, von denen jedes den Anspruch erhebt, brandneu,
originell, j a schöpferisch zu sein.
Strategie der Arbeiterklasse verlangt umfassende Analyse
Zunächst
zu dieser Unterstellung: Schon in der „Deutschen Ideologie” von Marx
und Engels kann man nachlesen: „Die Klasse, die die Mittel zur
materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich
über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im
Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen
Produktion abgehen, unterworfen sind.”7 Ausgemacht und festgemacht ist
hier eben die bürgerliche Hegemonie als Durchschnitt, als Regel. Und
somit die Ausnahme ihrer Durchbrechung, die zu einschneidenden
Änderungen führen kann. Abgeleitet wird die Regel aus der Ökonomie, aus
den materiellen Lebensverhältnissen, aus der Basis. Aber auch die
Ausnahme — und dies ist ein roter Faden durch die späteren Werke von
Marx und Engels — aus den objektiven Widersprüchen in der Basis, die
sich nie unmittelbar, direkt im Überbau widerspiegeln; aus Konflikten,
die sich keineswegs von selber aufheben, sondern im Überbau, in
Klassenkämpfen, im Ideenstreit bis zur Entscheidung ausgetragen werden
müssen.
Marx,
Engels, Lenin hielten es für das oberste Gebot der
Wissenschaftlichkeit, eine möglichst allseitige Erfassung der
Wirklichkeit, ihrer Widersprüche — des Weitertreibenden, Fortleitenden —
anzustreben. Im besonderen waren sie überzeugt: Eine zielführende
Strategie der Arbeiterklasse verlangt die Berücksichtigung sämtlicher
wichtigen Elemente, auf die sich die Macht des Staates stützt, nicht
allein in seinem Charakter, als organisierte Gewalt, auch in den Ideen,
im „ideologischen Überbau”, in dessen Institutionen.
Hegemonie gepanzert durch Zwang
Nun
war Gramsci kein Theoretiker der Ökonomie. Er nahm sich gar nicht eine
Erforschung der Änderungen ökonomischer Bewegungsgesetze und ihrer
Auswirkungen auf den Überbau vor. Er widmete einen großen Teil seiner
Energie dessen Analyse, insbesondere der „ideologischen Apparate” und
Funktionen, etwa der Intellektuellen, wofür er auch zweifellos die
besten Voraussetzungen besaß. Auch die Ideengeschichte wird letzten
Endes von den materiellen Lebensverhältnissen geprägt, in ihren
Tendenzen bestimmt. Doch sie folgt auch eigenen Gesetzen. Etwa dem, dass
man sich jeweils mit gerade oder noch vorherrschenden Gedanken
auseinandersetzt, nicht allein beim Gegner. Auch in den eigenen Reihen.
Und zu Gramscis Zeit dominierte noch — im Gegensatz zu Lenin —
ökonomistisches Denken, das wähnt, jede Veränderung im Überbau direkt,
exakt aus Verschiebungen an der Basis ableiten zu können; eine krasse
Unterschätzung der aktiven Rolle des „subjektiven Faktors”, des Handelns
von Menschen, Parteien, Organisationen. Daraus ergibt sich manche
Unausgewogenheit, Überspitztheit von Formulierungen Gramscis. So wie er
bewusst Akzente verschieben wollte — und damit durchaus recht hatte —,
so ist es heute richtig und nötig, seine Positionen aus den Bedingungen
ihrer Entstehung zu begreifen, an Heutigem zu messen, um zu verhindern,
dass andere Seiten der Wirklichkeit zu kurz kommen. Was unsere Fragen
betrifft, Gramscis Verhältnisse zum Leninismus, zur Problematik
Staat—Hegemonie, ist unbedingt festzuhalten: Merkmal ist auch bei ihm
die Einheit der wichtigsten Elemente. Vor allem dort, wo er seine
Auffassungen zu Formeln verdichtet hat: Staat=Diktatur+Hegemonie, ist
„Hegemonie gepanzert durch Zwang”.8
Und
auch hier stehen sämtliche Erfinder, Verkünder oder Sucher „dritter
Wege” auf grundsätzlich anderen Positionen. Alle zerbrechen diese
Einheit, glänzen durch Einseitigkeit, lassen dieses oder jenes wichtige
Element, oft gleich mehrere , überhaupt nicht oder nur für eine „längst
versunkene Vergangenheit” gelten. Dafür drei Beispiele aus der
österreichischen Arbeiterbewegung, mit sehr unterschiedlicher Bedeutung,
verschiedenen Positionen, aus verschiedenen Zeiten. Der blutige Februar
1934 machte es unmöglich, die Tatsache, dass der Staat nicht zuletzt
organisierte Gewalt ist, als Ausgeburt kommunistischen Dogmatismus”
hinzustellen. Als Otto Bauer, bestürzt über die Ergebnisse seiner
eigenen Politik, eine neue Strategie zu entwickeln versuchte, zerriss
er, wie gewohnt, diesmal aber auf neue Weise, diese Einheit: durch
Zerlegung der Geschichte in „zwei grundverschiedene Etappen”. In die
„Blütezeit der Demokratie”, wo die bürgerlichen Ideen, „dermaßen
selbstverständlich zu den herrschenden Ideen geworden sind, dass die
herrschende Klasse gar nicht die Entrechtung anderer Klassen braucht”,
die bürgerliche marxistischen Staatstheorie. Etwa die Unterstellung, die
Klassiker — Marx, Engels, Lenin — hätten im Staat nur ein Organ der
Gewalt und sonst gar nichts gesehen. Unvergleichlich bequemer lässt sich
dann argumentieren: Weil die Macht des Kapitals sich auf die
Vorherrschaft bürgerlicher Meinungen stützt, fällt diese Macht im
Augenblick, da diese Stütze bricht. Mittlerweile gibt es unzählige
Exemplare dieses Argumentationsmusters, von denen jedes den Anspruch
erhebt, brandneu, originell, ja schöpferisch zu sein.
Strategie der Arbeiterklasse verlangt umfassende Analyse
Zunächst
zu dieser Unterstellung: Schon in der „Deutschen Ideologie” von Marx
und Engels kann man nachlesen: „Die Klasse, die die Mittel zur
materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich
über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im
Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen
Produktion abgehen, unterworfen sind.”7 Ausgemacht und festgemacht ist
hier eben die bürgerliche Hegemonie als Durchschnitt, als Regel. Und
somit die Ausnahme ihrer Durchbrechung, die zu einschneidenden
Änderungen führen kann. Abgeleitet wird die Regel aus der Ökonomie, aus
den materiellen Lebensverhältnissen, aus der Basis. Aber auch die
Ausnahme — und dies ist ein roter Faden durch die späteren Werke von
Marx und Engels — aus den objektiven Widersprüchen in der Basis, die
sich nie unmittelbar, direkt im Überbau widerspiegeln; aus Konflikten,
die sich keineswegs von selber aufheben, sondern im Überbau, in
Klassenkämpfen, im Ideenstreit bis zur Entscheidung ausgetragen werden
müssen.
Marx,
Engels, Lenin hielten es für das oberste Gebot der
Wissenschaftlichkeit, eine möglichst allseitige Erfassung der
Wirklichkeit, ihrer Widersprüche — des Weitertreibenden, Fortleitenden —
anzustreben. Im besonderen waren sie überzeugt: Eine zielführende
Strategie der Arbeiterklasse verlangt die Berücksichtigung sämtlicher
wichtigen Elemente, auf die sich die Macht des Staates stützt, nicht
allein in seinem Charakter, als organisierte Gewalt, auch in den Ideen,
im „ideologischen Überbau”, indessen Institutionen.
Hegemonie gepanzert durch Zwang
Nun
war Gramsci kein Theoretiker der Ökonomie. Er nahm sich gar nicht eine
Erforschung der Änderungen ökonomischer Bewegungsgesetze und ihrer
Auswirkungen auf den Überbau vor. Er widmete einen großen Teil seiner
Energie dessen Analyse, insbesondere der „ideologischen Apparate” und
Funktionen, etwa der Intellektuellen, wofür er auch zweifellos die
besten Voraussetzungen besaß. Auch die Ideengeschichte wird letzten
Endes von den materiellen Lebensverhältnissen geprägt, in ihren
Tendenzen bestimmt. Doch sie folgt auch eigenen Gesetzen. Etwa dem, dass
man sich jeweils mit gerade oder noch vorherrschenden Gedanken
auseinandersetzt, nicht allein beim Gegner. Auch in den eigenen Reihen.
Und zu Gramscis Zeit dominierte noch — im Gegensatz zu Lenin —
ökonomistisches Denken, das wähnt, jede Veränderung im Überbau direkt,
exakt aus Verschiebungen an der Basis ableiten zu können; eine krasse
Unterschätzung der aktiven Rolle des „subjektiven Faktors”, des Handelns
von Menschen, Parteien, Organisationen. Daraus ergibt sich manche
Unausgewogenheit, Überspitztheit von Formulierungen Gramscis. So wie er
bewusst Akzente verschieben wollte — und damit durchaus recht hatte —,
so ist es heute richtig und nötig, seine Positionen aus den Bedingungen
ihrer Entstehung zu begreifen, an Heutigem zu messen, um zu verhindern,
dass andere Seiten der Wirklichkeit zu kurz kommen. Was unsere Fragen
betrifft, Gramscis Verhältnisse zum Leninismus, zur Problematik
Staat—Hegemonie, ist unbedingt festzuhalten: Merkmal ist auch bei ihm
die Einheit der wichtigsten Elemente. Vor allem dort, wo er seine
Auffassungen zu Formeln verdichtet hat: Staat=Diktatur+Hegemonie, ist
„Hegemonie gepanzert durch Zwang”.8
Und
auch hier stehen sämtliche Erfinder, Verkünder oder Sucher „dritter
Wege” auf grundsätzlich anderen Positionen. Alle zerbrechen diese
Einheit, glänzen durch Einseitigkeit, lassen dieses oder jenes wichtige
Element, oft gleich mehrere , überhaupt nicht oder nur für eine „längst
versunkene Vergangenheit” gelten. Dafür drei Beispiele aus der
österreichischen Arbeiterbewegung, mit sehr unterschiedlicher Bedeutung,
verschiedenen Positionen, aus verschiedenen Zeiten. Der blutige Februar
1934 machte es unmöglich, die Tatsache, dass der Staat nicht zuletzt
organisierte Gewalt ist, als Ausgeburt kommunistischen Dogmatismus”
hinzustellen. Als Otto Bauer, bestürzt über die Ergebnisse seiner
eigenen Politik, eine neue Strategie zu entwickeln versuchte, zerriss
er, wie gewohnt, diesmal aber auf neue Weise, diese Einheit: durch
Zerlegung der Geschichte in „zwei grundverschiedene Etappen”. In die
„Blütezeit der Demokratie”, wo die bürgerlichen Ideen, „dermaßen
selbstverständlich zu den herrschenden Ideen geworden sind, dass die
herrschende Klasse gar nicht die Entrechtung anderer Klassen braucht”,
die bürgerliche Demokratie der Arbeiterklasse „einschläfert”… und in
eine Periode der Siege des Faschismus, wo der Zertrümmerung der
bürgerlichen Demokratie nur eine schlagende Antwort folgen kann: die
Diktatur des Proletariats.9 Solches Entweder-Oder kann einer
Rechtfertigung der Sozialdemokratie, ihres Zurückweichens vor dem
Faschismus dienen, nicht aber der Begründung einer revolutionären
Strategie.
Der Teufelskreis vormarxistischer Aufklärung
Offen
bleibt alles für den Fall, wo dem Sturz des Faschismus nicht der
Sozialismus folgt, sondern bloß die bürgerlich-demokratische
Restauration. Bauers Zweiteilung der Geschichte wurde durch die
Geschichte als pure Konstruktion erwiesen. In einer Reihe von Ländern
trat ein, was er schon für „historisch” unmöglich erklärt hatte, was zu
verhindern — im Interesse des Kampfs für den Sozialismus — nicht zuletzt
eine der Realität angemessene Strategie erfordert hätte: die
„bürgerlich-demokratische” Restauration.
Ein
weiteres Beispiel aus jüngster Zeit. Zur Erfahrungstatsache, dass auch
eine absolute SP-Mehrheit den Sozialismus nicht um einen Schritt
näherbringt, bemerken in einem Artikel mit dem Titel „Überholter
Austromarxismus?”.wMichael Häupel, Manfred Matzka, Peter Pelinka: „Die
gesamte Rechtsordnung, das gesamte einer sozialistischen Regierung zur
Verfügung stehende Steuerungssystem ist historisch und strukturell von
der bürgerlichen Hegemonie geprägt und funktioniert am besten nur in
ihrem Sinn: Es ist daher nur begrenzt gesellschaftsverändernd
einsetzbar.” Auch hier sticht die Einseitigkeit der Betrachtungsweise
ins Auge. Wird der bürgerliche Charakter des staatlichen
Steuerungssystems wirklich bloß oder auch nur erstrangig von der
Vorherrschaft bürgerlicher Ideen geprägt? Welche Rolle spielt da der
bürgerliche Charakter der Ökonomie? Hört der „physische Zwangsapparat”
des Staats auf zu wirken oder gar zu existieren, wo er nicht weithin
sichtbar, auf dramatische Weise eingesetzt wird? Von vormarxistischer
Aufklärung kennt man den Teufelskreis: Die Ideen werden vom Milieu
bestimmt. Und was bestimmt das Milieu? Die Ideen! Mit diesem
Instrumentarium, bei Ausklammerung von Schlüsselfragen, von
Auseinandersetzungen mit antimarxistischen Positionen, legt man — ob
man’s will oder nicht — den Trugschluss nahe, es genüge, die Ideen zu
ändern, um den Steuerungsapparat des bürgerlichen Staats der
Gesellschaftsänderung, dem Sozialismus dienstbar machen zu können.
Ein
drittes Beispiel: Sogar zur theoretischen „Erhöhung” von Heinz Fischers
„Doppelstrategie der Verwaltung und Verwandlung” der kapitalistischen
Gesellschaft wird Gramsci strapaziert. Freilich bloß mit einem
verstümmelten Zitat aus zweiter oder dritter Hand. Fischers erste
fundamentale Entdeckung kategorisch formuliert: „Staatliche
Unterdrückungsapparate gibt es nur noch in primitiven öde totalitäten
Gesellschaften.”11 Gramscis Theorie der Hegemonie nimmt bei Fischer
folgende kümmerliche Gestalt an: „Dieser Kampf um die geistige und
moralische Führung in der Gesellschaft ist der Kern des politischen
Wettbewerbs unserer Tage. Wer ihn gewinnt, wird das Europa der nächsten
Jahrzehnte gestalten, und die Sozialdemokratie muss ihre Strategie nach
dieser Tatsache richten.”12
„Dritter Weg” lebt von Einseitigkeit
Mit
Gramsci hat das insofern zu tun, als es eine radikale Verfälschung, ja
Verneinung seines Grundgedankens ist: Hegemonie sozialistischen
Bewusstseins ist nur im Kampf gegen das Kapital auf allen Ebenen, in
allen Erscheinungsformen zu erreichen. Fischers „Hegemonie” ist der
„Konsens der Sozialpartnerschaft”, die das Kapital für unentbehrlich
erklärt, ja sogar für sozial, wenn die Sozialdemokratie permanent für
Kompromisse sorgt. Durchaus folgerichtig schließt Fischer: „Je größer
der Konsens, desto weniger kann er bestehende Verhältnisse radikal in
Frage stellen.”13 Dieser „Logik” angemessen ist sein kühnstes Ziel: „Man
kann versuchen, an unserer Gesellschaftsordnung jene Änderungen
vorzunehmen, die ihre destruktiven und inhumanen Tendenzen eliminieren
oder zumindest reduzieren.. ,”14 Schon ist aus dem Kapitalismus „unsere”
Gesellschaftsordnung geworden. Aus der „Umgestaltung” die bloße
Verwaltung, gepaart mit dem frommen Wunsch, dem Kapitalismus seine
schließlich tödlichen Widersprüche abzugewöhnen, um ihn erhalten zu
können. Die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, die Tatsache, dass auch
die Verwaltung des Kapitalismus durch Sozialdemokraten in Krisenzeiten
zur „Mangelverwaltung” wird, zur Belastung der arbeitenden Bevölkerung
im Interesse des Kapitals — sie begründen hinlänglich, warum dergleichen
noch nie zu einer sozialistischen Hegemonie” geführt hat, aber schon
des Öfteren zum Verlust sozialdemokratischer Parlamentsmehrheiten.
Nicht
im entferntesten denken wir an eine politische Gleichstellung so
unterschiedlicher Positionen. Theoretisch charakteristisch ist jedoch —
und das wollten wir an österreichischen Beispielen demonstrieren: Alle
Konzepte von „dritten Wegen” leben von Einseitigkeit, vom Ignorieren,
vom Nicht-wahrhaben-Wollen objektiver Gegebenheiten und Widersprüche,
woraus sie eine “Höhere Theorie” oder gar eine „höhere Moral” machen
wollen. Was den Fragenkomplex Staat—Hegemonie betrifft, lassen sich die
zahllosen Varianten auf ein paar Grundmuster reduzieren: Herrschaft wird
in Krisenzeiten angeblich ausschließlich durch physische Gewalt
ausgeübt, aufrechterhalten. In ruhigen Zeiten sorgt dafür ausschließlich
die Hegemonie. Eben diese Ausschließlichkeit, dieses Entweder-Oder
ignoriert die Vielfalt der Realität, die objektive Dialektik zwischen
diesen Faktoren, die täglich sich von neuem erweist. Natürlich ist es
taktisch höchst bedeutsam, genau zu bestimmen, was überwiegt: Zwang oder
Hegemonie; wie sie sich mischen, ergänzen und — so weit voraussehbar—
mischen werden. Strategisch wird es fatal, hält man nur das eine oder
das andere für möglich. Nicht einmal das blutigste faschistische Regime
wird auf Versuche verzichten, das unbequeme Sitzen auf Bajonetten durch
einige „hegemoniale” Elemente zu polstern. Und auch die
allerfriedlichste Kapitalherrschaft hat noch nie — in diesem Jahrhundert
— auf Bereitstellung eines Unterdrückungsapparates verzichtet.
Hegemonie bedeutet nicht Entmachtung des Gegners
Noch
mehr: Diese Apparate und Organe — etwa Polizei und Gerichte — sind auch
in den „normalsten” Zeiten ein unabdingbares Element zur Sicherung für
das Funktionieren der Hegemonie. Stehen doch diese Apparate — wie
Gramsci zu bedenken gab — als Rückhalt hinter den „privaten”
Institutionen. Trachten sie doch — weil keine Hegemonie je total,
absolut ist —, jene Gruppen „ganz legal” zu disziplinieren,
einzuschüchtern, die weder aktiv noch passiv zustimmen.15 Wo immer
bürgerliche Hegemonie abbröckelt, politische Labilität um sich greift,
Regierungsunfähigkeit droht, nehmen allemal die Tendenzen zur
Entdemokratisierung zu, wird durch die hegemonialen Löcher der Panzer
sichtbar.
Auch
diese Gesetzmäßigkeit hat Gramsci festgehalten, in unmittelbarem
Zusammenhang mit seiner Hegemonie-Theorie: „Neigt der ideologische Block
zur Zerfall, dann kann an die Stelle der Spontaneität der Zwang in
immer weniger maskierten und weniger indirekten Formen treten, bis es
schließlich zu regelrechten Polizeiübergriffen und Staatsstreichen
kommt.”16 Die Tragödie der sozialistischen Bewegung in Chile war eine
blutige Lektion. Jeder Tag bringt neue Beispiele dafür: Hier hat sich
nichts „grundlegend gewandelt”. Vom Militärputsch in der Türkei über
Staatsstreichversuche in Spanien und Griechenland, über die Kette der
Folter- und Henkerregimes in Lateinamerika bis zu jenem Italien, wo
angeblich Unterdrückungsapparate so gut wie nichts mehr zu bedeuten
haben, wo aber christlich-demokratische, sozialdemokratische, ja sogar
sozialistische Minister in einer Geheimloge mit führenden Militärs
kürzlich Rechtsputschpläne geschmiedet haben.
Diese
Realitäten, teuer bezahlte Erfahrungen beherzigend, heißt es im
Programm der KPÖ: „Jede Umwälzung, ob antimonopolistisch oder
sozialistisch — setzt voraus, dass die Arbeiterklasse, geführt von einer
starken, revolutionären Partei zur politisch, ideologisch, moralisch
führenden Kraft im Volk wird, anders gesagt, die .Hegemonie’ erringt.
Das ist die Voraussetzung jeder Umwälzung. Doch die Erringung der
Hegemonie ist noch nicht gleichbedeutend mit der politischen und
ökonomischen Entmachtung des Gegners. So lange das Kapital über
Machtpositionen in Staat, Wirtschaft und Massenmedien verfugt, wird es
mit ihrer Hilfe trachten, Zwietracht im Volk zu säen, zu verwirren, zu
korrumpieren, zu entsolidarisieren, einzuschüchtern und — wenn möglich —
zu terrorisieren, um die Arbeiterklasse zurückzuwerfen.”
Gramscis Methode und heutige Bedingungen
Auf
die möglichst gründliche Erfassung aller Funktionen des Staates, der
Stützen der Herrschaft des Kapitals — in der Ökonomie, in Apparaten,
Organisationen, sei es des Staates im engeren Sinn oder des politischen
Systems, im privaten oder öffentlichen Leben — kommt es mehr denn je an.
Zumal
der Staat des staatsmonopolistischen Systems — in dieser Hinsicht
ungemein fruchtbar — immer neue Funktionen gebärt. Die Verzahnung
zwischen ihm und Teilen des politischen Systems verwischt zuweilen schon
die Grenze. Und nicht zuletzt, weil die schon von Gramsci vermerkte
Tendenz, dass die spontane, „naturwüchsige” Reproduktion der
Vorherrschaft der Ideen der Herrschenden immer weniger reicht,
„Durchstaatlichung” immer mehr nachhelfen muss, sich ungemein
beschleunigt hat. Ja, die Häufung „alternativer” Bewegungen
verschiedenster Art zeugt vom Verschleiß vor allem jener Teile des
politischen Systems, von einer Abnahme ihrer konsensbildenden Kraft, die
am engsten mit dem Staat, dem System verwachsen sind. Weil die Welt
sich weitergedreht hat, weil es hier eine Fülle neuer Erscheinungen
gibt, ist zu fragen, ob das seinerzeit von Gramsci dafür entwickelte
Instrumentarium heute noch brauchbar ist: Seine methodische — nicht
organische — Trennung des „integralen Staates” (im weitesten Sinn) in
eine „politische Gesellschaft” einerseits (Staat im engeren Sinn: hohe
Verwaltung, Armee, Justiz, Polizei usw.) und die „bürgerliche
Gesellschaft” (societät civile) andererseits (Kirchen, Verbände,
Parteien, Gewerkschaften, Schulen usw.).
Die
Problematik solcher methodischen Zweiteilung wird offenkundig in einer
beachtenswerten Arbeit von Annegret Kramer, „Gramscis Interpretation des
Marxismus”.11 Die Autorin bekennt sich zur Absicht, Gramsci gegen den
Vorwurf des „subjektiven Idealismus”, des „Voluntarismus” zu
verteidigen: Sie anerkennt die Bedeutung des Staatsapparates für die
Aufrechterhaltung des Systems. Doch sie formuliert zugleich:
„Eigentliche Machtbasis der Bourgeoisie ist vielmehr die bürgerliche
Gesellschaft mit ihren hegemonialen Institutionen.”ls Wohlgemerkt, die
„bürgerliche Gesellschaft”, bei Gramsci „unterstes Stockwerk des
Überbaus”, zwischen „Staat und ökonomischer Struktur”. Wäre sie
tatsächlich die „eigentliche Machtbasis”, dann müsste man unbedingt
daraus schließen: Erobert man sie, hat man schon die eigentliche Macht —
über Staat wie Ökonomie.
Wir
unterstellen keineswegs eine solche Schlussfolgerung. Wir stellen bloß
fest: Wo immer man — sei es auch nur methodisch — eine „bürgerliche
Gesellschaft” von den materiellen Lebensverhältnissen, von den
bürgerlichen Eigentums- und Verkehrsbedingungen trennt und dabei für
einen Moment ihre Bedeutung aus dem Auge verliert, kann man
idealistischen Konstruktionen, auch wenn man sie bekämpfen möchte,
ungewollt Hilfe leisten. Eine Unzahl idealistischer Konzepte und Utopien
hat zur Voraussetzung, dass man — in der Phantasie — den Überbau vom
Boden, von der Basis reißt, worüber er sich erhebt. Das reicht von
Verheißungen einer „fortschreitenden Dezentralisierung und
Machtentflechtung” im Überbau — bei gleichzeitig fortschreitender
Konzentration und Zentralisierung des Kapitals in der Basis, der
Herausbildung von Kapitalkolossen, die über Zehntausende hinweg stapfen
können. Nicht zu vergessen der Traum, über der Basis des
Monopolkapitalismus den Prachtbau einer qualitativ „völlig neuen
Demokratie” errichten zu können.
Unterscheidung zwischen Zerschlagen und Übernehmen
Die
unleugbar zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Realität
verleiht der Beantwortung der Fragen, die Lenin in Hinblick auf
Hegemonie und Staat stellte, immer größere Bedeutung: Welche Apparate,
Institutionen, Organe — ob staatlich, halbstaatlich oder „privat” —
können gewonnen, in ihren Funktionen gewandelt, dürfen also nicht
zerstört werden? Welche müssen zerschlagen werden? Einseitigkeit hat es
natürlich auch hier viel leichter. Die anarchistische, die radikal
fordert: Alles muss weg, nicht nur dieser Staat, sondern jeder, und auch
die alten „versklavenden” Produktivkräfte. Und die revisionistische,
die beteuert: Alles kann man übernehmen; es gibt jedoch nichts, das sich
nicht allmählich, irgendwann einmal in sein Gegenteil verkehren ließe.
Eine
der ausgefallensten Begründungen dafür stammt von Nikos Poulantzas, der
in Diskussion über Gramsci häufig zitiert wird. Einerseits wirft er
Gramsci die gelegentliche Neigung vor, die Bedeutung der
Repressionsapparate im Verhältnis zu den ideologischen Apparaten zu
vernachlässigen. Er unterstreicht die Gefahr, die von dieser
Unterdrückungsmaschinerie ausgehen kann, ja spricht vom gegenwärtigen
„autoritären Obrigkeitsstaat”. Doch zugleich behauptet er, den Begriff
der Zerschlagung des Staatsapparates könne man nicht gebrauchen, hätten
doch Marx und Lenin — sofern von ihm feststellbar — darunter die
Zerschlagung der Organe der repräsentativen Demokratie gemeint, ihre
ausschließliche Ersetzung durch direkte Demokratie!19
Vielleicht
war Poulantzas nicht bekannt, dass Lenin, noch kurz vor dem Roten
Oktober, ausdrücklich von der Möglichkeit einer „kombinierten
Staatsform” sprach, mit verfassunggebender Versammlung und Sowjet. Auch
bekannt müsste sein: Die präzise Unterscheidung zwischen Zerschlagen und
Übernehmen verlangte Lenin, weil er das Zerschlagen lediglich auf jene
Institutionen bezogen wissen haben wollte, die unverbesserlich
reaktionär, durch nichts von der Bourgeoisie zu trennen, nicht unter
Kontrolle des Volkes zu bringen sind.
Gramscis Bemühungen um die Partei
Wie
steht Gramsci zu dieser Problematik? „Es ist notwendig, dass die
Werktätigen die Macht übernehmen. Aber sie werden das niemals erreichen
können, solange sie sich einbilden, sie durch die Organe des
bürgerlichen Staates erobern und ausüben zu können.”20 Das erklärt,
warum bei Gramsci nirgends Garantien für das Fortbestehen dieser oder
jener Institution zu finden sind. Demokratische Volksvertretungen hielt
er für unerlässlich. Die Verleihung eines „absoluten Werts” für diese
oder jene Institution, unabhängig von ihren sozialen Funktionen, für
typisch bürgerliches Denken. In jeder Zeile Gramscis über Bündnisse
spürt man die rückhaltlose Bejahung der Gleichberechtigung, der
Notwendigkeit gegenseitiger Achtung. Aber man wird auch nicht die
leiseste Spur „Pluralismus” finden, nichts, was Zugeständnisse im
Grundsätzlichen aus taktischen Gründen entschuldigen könnte.
Weil
die Unterscheidung zwischen verschiedenen staatlichen, halbstaatlichen,
privaten Apparaten, Organen und Institutionen hinsichtlich Funktion,
Beeinflussbarkeit im Klassenkampf immer wichtiger wird, weil eine
organische Verflechtung zwischen dem Staat im engeren Sinn und Teilen
des politischen Systems, die er sich vorlagert, dienstbar macht,
fortschreitet, scheint mir, dass eine methodische Trennung heute eher
hemmend als fördernd ist für die unerlässliche konkrete Analyse
womöglich jedes dieser Elemente.
Dieser
Artikel beschränkt sich — wie eingangs festgestellt — lediglich auf
eine Frage: Gramscis Beitrag zur Revolutionstheorie, sein Verhältnis zum
Leninismus. Wir haben nachgewiesen, dass Gramsci in der Theorie der
Hegemonie, des Staats, hinsichtlich der Notwendigkeit der Diktatur des
Proletariats unmittelbar an Lenin anknüpfte, dass hier die
Berührungspunkte am stärksten sind. Aus Gramsci einen „Schöpfer einer
antileninistischen Strategie” machen wollen, heißt, sein Leben und
Wirken völlig verkennen oder verfälschen. „Die Gründung und dann die
Leitung der Kommunistischen Partei”, sagte Togliatti, „sind die
entscheidenden Akte seiner politischen Tätigkeit und seins Lebens. All
seine historischen, politischen, philosophischen Untersuchungen enden
bei der Lehre von der Partei…, die den Kampf für die Eroberung der Macht
leitet und sich der politischen Macht bedient, um eine neue
Gesellschaft zu organisieren.”21 Gramscis besonderes Verdienst war es,
schon zu einer Zeit, als viele Revolutionäre an einen raschen, recht
kurzen Weg zum Ziel dachten, die Schwierigkeiten, die Unerlässlichkeit
des „Heranführens an die Revolution”, die Lenin als zentrale Aufgabe der
Kommunisten bezeichnet hatte, erfasst und unter diesem Gesichtspunkt
Geschichte, Struktur, Kultur seines Landes analysiert zu haben.
Dass
er dabei die Möglichkeit einer revolutionär-demokratischen Etappe auf
dem Weg zum Sozialismus, auf die Lenin 1917 verwiesen hatte, nicht näher
untersuchte, schmälert nicht sein Verdienst. Sie ist heute in die
Strategie der überwältigenden Mehrheit der kommunistischen Parteien
eingegangen — als nationaldemokratische, als antifaschistische, als
antimonopolistische Umwälzung, je nach den Bedingungen.
Es
ist verfehlt, theoretische Verallgemeinerungen, etwa die Erfindung
eines „Gramscismus” vorzunehmen, unter Missachtung oder Geringschätzung
der nachweisbaren Zusammenhänge, die Gramscis Denken und Taten mit den
realen Bewegungen, mit der Kommunistischen Internationale verbanden.
Gegenüber Versuchen, ihn aus diesen Zusammenhängen zu reißen, ist nach
wie vor Togliattis Hinweis aus dem Jahr 1958 angebracht: „Die
wissenschaftliche Erkenntnis, zu der uns das Werk Gramscis führt, ist
also nicht die einer Wissenschaft, mit deren Hilfe man die Aufgaben des
unmittelbaren Kampfes umgehen kann, indem man auf sie verzichtet, sie
aufschiebt oder auf sie herabblickt.. ,”22
Anmerkungen
1
Palmiro Togliatti, Der Leninismus im Denken und Handeln von Antonio
Gramsci. In: Hans Heinz Holz/Hans Jörg Sandkühlcr (Herausgeber), Betr.:
Gramsci, Philosophie und revolutionäre Politik in Italien, Köln 1980, S.
71
2 W. I.Lenin, Karl Marx. In: Lenin, Werke, Bd.21, Berlin 1960,5.64
3 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, Frankfurt am Main 1980, S. 150
4 A. Gramsci, Die süditalienische Frage, Berlin 1955, S. 8
5 Ebenda
6 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 345
1 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. In: Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958,5.46
8 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 343
9 Otto Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen? Bratislava 1936, S. 112f.
10
Michael Häupel/Manfred Matzka/Peter Pelinka: Überholter
Austromarxismus? In: Zukunft, Sozialistische Zeitschrift für Politik,
Wirtschaft und Kultur, Wien 1980,
April 11 Heinz Fischer, Positionen und Perspektiven, Wien 1977, S. 33
12 Ebenda, S. 34
13 Ebenda, S. 35
14 Ebenda, S. 184
15 A. Gramsci, Opere, Bd. 3, Turin 1966, S. 9
16 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 297
17 Annegret Kramer, Gramscis Interpretation des Marxismus. In: Betr.: Gramsci, a.a.O.
18 Ebenda, S. 176
” Nikos Poulantzas, Annäherung an den Sozialismus, West-Berlin 1980, S. 55,57,74
20 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 95
21 P. Togliatti, Der Leninismus im Denken und Handeln von A. Gramsci, S. 88
22 Ebenda, S. 74
Aus: »Weg und Ziel«, 1981
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