Zitat:

Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein. - Bertold Brecht, „Leben des Galilei“

Zitat:

Bedrohlich ist das Volk für die Herrschenden, wenn es ohne Furcht ist.“ -Tacitus (römischer Historiker)

Zitat:

Die Furcht vor Übervölkerung tritt stets in Perioden auf, in denen der bestehende Sozialzustand im Zerfall begriffen ist. August Bebel

Montag, 31. Oktober 2011

Gramsci, Lenin, Revolution und Hegemonie

Im folgenden ein Text von Ernst Wimmer, welchen ich mit Vorwort von Sepp Aigner von dessen Seite übernehme. Meines Erachtens enthält der Text wesentlich mehr, als „nur“ der Überschrift zum Vorwort und Text zu entnehmen ist. Grundsätzlich werden wichtige Punkte kommunistischer Bewegtheit angesprochen. Gerade die Aussagen zu Hegemonie, zur führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse und zum dritten Weg sind beachtenswert und hochaktuell. Er zeigt auch, wie komplex Klassenkampf ist und bei aller objektiven Bedingtheit es auf das bewusste, zielorientierte Handeln der Menschen ankommt. Hier nun der Text mit Vorwort von Sepp Aigner und entsprechenden Quellenverweisen:  

Der Leninist Gramsci

Der hier gespiegelte Aufsatz von Ernst Wimmer ist 1984 erschienen, aber im Zusammenhang mit den Diskussionen in der Linken, speziell der DKP, erstaunlich aktuell. In diesem Blog wurd schon in mehreren Beiträgen auf das “Spiel” verwiesen, marxistische Theoretiker für aktuelle “Linienkämpfe” zu benutzen und sie gegeneinander auszuspielen. Die bekanntesten Beispiele sind Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci, die von “Erneuerern” des Marxismus gern gegen Lenin “verwendet werden. (s. dazu auch: http://kritische-massen.over-blog.de/article-mit-gramsci-gegen-lenin-durchaus-keine-historische-debatte-83608443.html und http://kritische-massen.over-blog.de/article-die-luxemburg-legende-und-ihre-aktuellen-zwecke-83518390.html ) Der Text von Ernst Wimmer beleuchtet das theroetische Denken Gramscis und seinen Zusammenhang mit Lenin.
Ernst Wimmer war ein bedeutender kommunistischer Theoretiker und Publzist in Österreich ( http://www.kominform.at/article.php/20111027002518293 ).

Gramsci und die Revolution

Von Ernst Wimmer
Je tiefer die Krise des Kapitalismus, je erbitterter und komplizierter der ideologische Kampf, je stärker Versuchungen zu „dritten Wegen”, Umwegen und Ausflüchten, desto häufiger werden — ganz verlässlich — auch Versuche, hervorragende Revolutionäre irgendwie noch als „Zeugen” gegen ihre revolutionäre Sache zu zitieren. Freilich meist, indem man sie lediglich mit ein paar Sätzen zu Wort kommen lässt, diese gegen ein Lebenswerk kehrt und alles andere, dabei Störende, nach Kräften unterschlägt oder entstellt. Schon klassisches Beispiel dafür ist die Legende um Rosa Luxemburg. Erbitterte Gegner jeder sozialistischen Umwälzung, die ihren Vorteil in den Kittelfalten des Kapitals suchen und anderen davon Geborgenheit versprechen, sind heute erst recht bemüht, Rosa als Skeptikerin gegenüber der Arbeitermacht hinzustellen, obgleich sie vor 60 Jahren gerade deshalb ermordet wurde, weil sie ohne Schwanken zielstrebig für die Errichtung der Arbeitermacht eintrat, den Kampf, die dafür nötige Partei organisierte. Ähnliches wird nun, wenn auch aus verschiedenen Motiven, mit verschiedenen Mitteln schon seit geraumer Zeit mit Antonio Gramsci versucht. Mit jenem Gramsci, dessen Leben in den Kerkern des Mussolini-Faschismus vorsätzlich zerstört wurde, weil man seine Unbeugsamkeit als Revolutionär kannte und fürchtete. („Wir müssen dieses Hirn 20 Jahre am Denken hindern”, sagte der faschistische Staatsanwalt unverblümt vor dem Gericht, das gehorsam Gramsci zu 20 Jahren Kerker verurteilte.)
Die Flut von Büchern, Monographien und Artikeln, die in den letzten Jahren über Gramsci erschien, hat Österreich nur mit Ausläufern erreicht. Mit der „Tendenzwende” auch in unserem Land, mit einer verstärkten Suche nach einer gesellschaftspolitischen Alternative, welche die absolute SP-Mehrheit nicht gebracht hat, wird sich auch dies ändern. Denn die Mehrzahl dieser Publikationen wurde weniger mit der Absicht verfasst, Probleme wiederzugeben, zeitbezogen zu untersuchen, die Gramsci beschäftigt hatten, als mit dem Vorsatz, ihn einmal für dieses, ein andermal für jenes, oft völlig Unvereinbares zu reklamieren.
Gramscis „Gefängnisschriften”
Dem strapazierten Leser wollen wir eine Aufzählung all dessen ersparen, wofür Gramsci schon bemüht worden ist. Aber eine kurze Skizze sind wir schuldig. Einmal wird er zum „letzten großen Repräsentanten der radikal-demokratischen Tradition Italiens” verharmlost, ein andermal in die Nachbarschaft des Vaters des Revisionismus, Bernstein, gerückt, ja gar als dessen „Systematisierer” gelobt, um desto besser verleumden zu können. Einmal will man bei ihm eine Geistesverwandtschaft mit „dem” Austromarxismus entdecken (als ob es je einen einheitlichen gegeben hätte), ein andermal die „Vaterschaft des Eurokommunismus”, eines „völlig neuen dritten Weges”. Ob man ihn — den unbändigen, weil nüchternen revolutionären Optimisten, den Verkünder der Unentbehrlichkeit der Kultur für die Revolution — mit dem Kulturpessimismus Adornos oder Marcuses zusammenpendeln will oder als hochbegabten, aber zufällig in die Politik verschlagenen Philologen oder Philosophen präsentiert: All das hat ungeachtet der Unterschiedlichkeit der Motive letztlich den nämlichen Zweck: den Leninisten Gramsci in Gegensatz zum Leninismus, zur Kommunistischen Internationale zu bringen, zu deren markantesten Vertretern er zählte.
Wo liegen Ansatzpunkte für willkürliche Interpretationen, für Entstellungen? In Gramscis Ausgangspunkt als idealistischer Philosoph, in seiner Entwicklung von einem führenden Funktionär der Sozialistischen Partei, also der II. Internationale, zu einem Führer der Kommunistischen Partei, also der III. Internationale. In der Besonderheit eines Teils seines Werks. In der Tatsache, dass Gramsci unter bedrückendsten Bedingungen, in Kerkerhaft, in einer dadurch erzwungenen „Sklavensprache”, die den Verzicht auf die marxistische Terminologie gebot, solche Umschreibungen wie soziale Gruppen” statt „Klassen” oder „Philosophie der Praxis” statt „Marxismus”, dass Gramsci unter diesen Bedingungen — eine imponierende Leistung — fast 3 000 Seiten Aufzeichnungen verfasste; Fragmente, Skizzen, Überlegungen, weil die Situation nichts anderes erlaubte. Einige tausend Seiten zur Selbstverständigung. Ein Herausgreifen von Problemen, ein Weiterspinnen von Entwicklungsfäden, ohne Zwang zur Ausgewogenheit und Berücksichtigung sämtlicher Zusammenhänge, ohne Möglichkeit, dieses Denken auf das — draußen — unmittelbar nötige Handeln der Bewegung zu beziehen. Darin liegt ein besonderer Reiz, eine ungemein anregende Kraft. Freilich auch die Möglichkeit zur falschen Akzentuierung, Kommentierung, zur Entstellung, zur Missdeutung.
Diese „Gefängnisschriften”, deren Veröffentlichung in den fünfziger Jahren großes Aufsehen hervorrief, die mit dem höchsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet wurden, haben — nicht zufällig — Gramscis Arbeiten aus jener Zeit überschattet, als er noch politisch in der Leitung der KPI und in der Kommunistischen Internationale tätig sein konnte. Die Leitlinie in diesem Werk — sagte Togliatti, Gramscis engster Kampfgefährte, dazu— kann man nur in der realen Tätigkeit Gramscis finden. Sämtliche Fragestellungen, Sondierungen, Überlegungen der „Gefängnisschriften”, alle hängen ursächlich mit Gramscis Hauptwerk zusammen: dem Aufbau der Kommunistischen Partei, seinen Bemühungen um ihre Bolschewisierung. Eben diese innere Einheit unterstrich Togliatti, als er (auf der Konferenz über Gramsci in Rom, Jänner 1958, in seinem Beitrag „Der Leninismus im Denken und Handeln von Antonio Gramsci”) sagte: „Gramsci war ein Theoretiker der Politik, vor allem aber war er ein praktischer Politiker, dass heißt ein Kämpfer. In der Politik muss die Einheit des Lebens von Antonio Gramsci gesucht werden: Der Ausgangs- und Endpunkt, die Suche, der Kampf, das Opfer sind Momente dieser Einheit.”1
Der Fatalismus des Austromarxismus — im Gegensatz zu Gramsci
Wir wollen uns hier lediglich auf eine Frage konzentrieren, die in Zusammenhang mit unserer Programmdiskussion und den Legenden über Gramsci als Ahnherr dritter Wege” aktuelle Bedeutung erlangt: seinen Beitrag zur Revolutionstheorie, sein Verhältnis zum Leninismus. Solche Konzentration verlangt weniger Verzichte, als man meinen könnte. Ohne Übertreibung kann man sagen: Gramscis Denken und Handeln waren von einer zentralen Frage bestimmt: Wie kommt man unter anderen Bedingungen zum gleichen Sieg wie die Bolschewiki, zur Revolution? Ob er die politische Theorie Machiavellis untersuchte, die Probleme der politischen Führung bei der Bildung und Entwicklung der italienischen Nation, ob die Formierung von „historischen Blöcken” oder den „Amerikanismus”, den „Fordismus” und „Taylorismus” — so grundverschieden die Themen, alles wird in den Dienst der gleichen Aufgabe gestellt, alles kreist um dieselben Fragen: Wie, unter welchen Bedingungen gelangt eine Klasse zur politisch ideologischen Führung? Mit welchen Mitteln stützt eine herrschende Klasse ihre Machtausübung ab? Was bewirkt, dass die Ideen der Herrschenden in der Regel die vorherrschenden sind?
Wie kann man diese Vorherrschaft schwächen, schließlich brechen, wie zur politisch-ideologisch-moralischen Hegemonie der Arbeiterklasse in einem System von politisch-sozialen Bündnissen gelangen, die Voraussetzung für eine Machtergreifung und für Machtausübung ist? Alles mündet in die Frage: Wie kommen wir zur Revolution? Und so trennen Welten Gramsci von jenen, die bei ihm Beweise dafür finden wollen, dass eine Revolution gar nicht nötig sei, durch irgendeinen Abschneider” oder „dritte Wege” überflüssig werde.
Zuweilen wird Gramsci als Gegner des orthodoxen Marxismus hingestellt. Prüfen wir, gegen welche „Orthodoxie” er sich wandte. Vehement gegen die in der Internationale damals herrschende „Orthodoxie” vom Schlag Kautskys, gegen jenen Vulgär-Ökonomismus — Gramsci bezeichnete ihn als „Infantilismus” —, der allein von der Entwicklung der Produktivkräfte den automatischen, den unaufhaltsamen Sieg des Sozialismus versprach. Gegen jene „Orthodoxie”, die — sich fälschlich auf Marx berufend — eine sozialistische Revolution im rückständigen Russland für eine „Unmöglichkeit”, ja den Versuch für „Unfug” erklärte. Gramsci war gegen jene „Orthodoxie”, die aus dem Marxismus eine „Lehre von der Untätigkeit des Proletariats” macht. Und wer war der unversöhnlichste, gewandteste, überlegene Gegner dieser „Orthodoxie”, dieser Buchstabengelehrsamkeit ohne revolutionären Atem? Lenin!
Gegen „Päpste” wie Kautsky, die sogar Marx zum Zeugen gegen revolutionäres Handeln machen wollten, die „ganz wissenschaftlich” den Eindruck erwecken wollten, als werde die Entwicklung der Produktivkräfte von selber die Eigentumsverhältnisse umwälzen, machte Lenin geltend: Marx hat die Unvermeidlichkeit der Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische einzig und allein aus dem ökonomischen Bewegungsgesetz der Gesellschaft abgeleitet. Aber Marx hielt Materialismus ohne die revolutionäre praktische Tätigkeit für „halb, einseitig und leblos”2. Es gehört ein starke Dosis Ignoranz oder Unverfrorenheit dazu, Gramsci in die Nähe des Austromarxismus zu rücken, der in allen Varianten einen Fatalismus pflegte, der dauernd von einem „ehernen Muss” der Geschichte sprach, um zu folgern, dass die Partei nicht müsse, ja die Massen gar nicht dürften.
Gramsci und die Bolschewiki  
Im Mittelpunkt von Gramscis Denken steht die Problematik der Hegemonie des Proletariats. Keineswegs als irgendein Ersatz für die Revolution, für Machtergreifung, sondern als Voraussetzung dafür. Bewusst stellt er sich in die Tradition Leninschen Denkens. Gramsci selbst definiert einmal den Leninismus als „Lehre von der Hegemonie des Proletariats”. Er würdigt, dass der wichtigste theoretische Beitrag — auf diesem Gebiet — von Lenin stammt. Noch aufschlussreicher ist Gramsci Charakterisierung der Rolle Lenins in seinen „Gefängnisschriften”: „Der größte moderne Theoretiker der ,Philosophie der Praxis’ hat auf dem Gebiet der politischen Organisation und des Kampfes gegen die verschiedenen ,ökonomischen’ Tendenzen die Front des aktuellen Kampfes, politisch verstanden, aufgewertet und die Lehre von der Hegemonie als Ergänzung zur Theorie des Gewaltstaates… entwickelt.” Wohlgemerkt, die Hegemonie nicht als Zaubermittel, das den Gewaltstaat in Dunst auflöst, sondern als Voraussetzung, um mit ihm fertig zu werden. Was imponiert Gramsci vor allem am Beispiel der Bolschewik!? Dass sie nicht nur die Theorie von der Hegemonie der Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen Schichten entwickelten, sondern auch das unerlässliche Mittel dazu: eine revolutionäre Partei, die nicht in den Massenbewegungen aufgeht, sondern richtungweisend, vorantreibend in ihnen wirkt: „Die einzige Partei (in der II. Internationale), die so sich vor der Degenerierung rettete, ist die Partei der Bolschewiki, der es gelang, sich an der Spitze der Arbeiterbewegung des eigenen Landes zu behaupten, weil sie aus ihren Reihen die antimarxistischen Strömungen ausschloss und mit Hilfe der Erfahrungen aus drei Revolutionen den Leninismus ausarbeitete, der der Marxismus der Epoche des Monopolkapitals, der imperialistischen Kriege und der proletarischen Revolution ist…”3
Das Verhältnis zwischen Hegemonie der Klasse und Funktion der revolutionären Partei ist ungemein kompliziert, nicht mit einem Zitat zu klären. Außer Zweifel steht jedoch: Wo immer man versucht, die führende Rolle der Partei in Gegensatz zu Erringung der Hegemonie der Klasse zu bringen, bricht man mit Gramscis Denken.
Zur Strategie und Taktik
Am klarsten formulierte Gramsci seine Position zur Hegemonie in der unvollendeten gebliebenen Schrift „Einige Gesichtspunkte der süditalienischen Frage”: „Das Proletariat kann in dem Maß zur führenden und herrschenden Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klassenbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu mobilisieren; und dies bedeutet in Italien, … die Zustimmung der breiten Massen der Bauern zu erlangen.”4 Die „Frage der Hegemonie des Proletariats” ist die „Frage der sozialen Basis der proletarischen Diktatur und des Arbeiterstaates”.5
Was ist eigentlich das wesentlichste und das originellste in Gramscis revolutionstheoretischen Überlegungen? Seine Folgerung aus der konkreten Situation in seinem Land: Frontalangriff ist lediglich eine Form des Kampfes. Man verdammt sich zur Isolierung oder zur Niederlage, wenn man es nicht versteht, andere, auch den kompliziertesten Kampfbedingungen angemessene Methoden zu entwickeln und zu meistern. Wiederholt hat Lenin zu bedenken gegeben: In rückständigen Ländern siegt die Revolution relativ leicht, ja ist sie zuweilen ein „Kinderspiel”. Aber ungemein schwer fällt es dort, eine neue Gesellschaft aufzubauen. In hochentwickelten Ländern ist eine neue Gesellschaft rascher, wirksamer, mit geringerer Mühsal, mit geringeren Opfern zu errichten. Aber wie schwer fällt es, an die Revolution heranzukommen. Gramsci geht von dieser Erkenntnis aus: „In Mittel- und Westeuropa hat die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur zur Bildung von breiten proletarischen Schichten geführt, sondern auch und gerade deshalb eine Oberschicht, die Arbeiteraristokratie, mit ihren Anhängseln, der Gewerkschaftsbürokratie und der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, geschaffen. Das bestimmende Moment, das in Russland direkt war und die Massen auf die Straße zum revolutionären Sturmangriff trieb, komplizierte sich in Mittel- und Westeuropa durch all diese vom entwickelten Kapitalismus geschaffenen Überbauten, macht die Aktion der Massen langsamer und vorsichtiger und erfordert daher von der revolutionären Partei eine weitaus komplexere und langfristigere Strategie und Taktik als die, welche in der Zeit zwischen März und November 1917 für die Bolschewik! notwendig war.”6
Um diese Strategie und Taktik entwickeln zu können, konzentrierte Gramsci sich auf die Analyse der „Überbauten”, auf die Ergründung all der Faktoren, die außer den Unterdrückungsgewalten des Staates, ja oft sogar diese verdeckend, auf mannigfaltigste Weise das bestehende System abstützen, die Aktion der Massen erschweren, der Herausbildung von Bündnissen entgegenwirken, also die Erringung einer Hegemonie der Arbeiterklasse hemmen oder blockieren. Zur Charakterisierung der langwierigen Phase des Kampfes um die Köpfe, um einzelne Positionen und Organisationen, entlehnte Gramsci der Militärterminologie die Bezeichnung „Stellungskrieg”. Er hielt diesen Stellungskrieg für unausweichlich in hochentwickelten kapitalistischen Ländern, aber keineswegs für das einzig mögliche Mittel. Es heißt, gegen das Grundkonzept des Revolutionärs Gramsci verstoßen, sich gegen seinen Zweck kehren, wenn man ihm Beschränkung auf ein alleinseligmachendes Mittel andichtet, die er als Beschränktheit bekämpfte.
Der Kern der Überlegungen, die Gramsci — anknüpfend an Lenins Theorie vom Staat und der Hegemonie der Arbeiterklasse — nach Abebben der großen revolutionären Welle in Europa im Gefolge des Roten Oktober entwickelte, besagt: In hochentwickelten kapitalistischen Ländern führt der Weg zur Entmachtung des Kapitals nur über die Hegemonie. Doch um in einem System von Bündnissen politisch, moralisch, ideologisch führend zu werden, bedarf es für die Arbeiterklasse der Ergründung möglichst aller Elemente, mit deren Hilfe die herrschende Klasse das Bewusstsein der Menschen beeinflusst, formt, deformiert: von Parteien, der Kirche, den Schulen, den besonders dynamischen Medien, über Vereine bis hin zu Theatern, Bibliotheken, bis zur Architektur, der Anlage von Straßen und deren Namen.
Dazu bedarf es der Entwicklung der Fähigkeiten, das Aufgreifen und die Vertretung berechtigter mannigfaltiger Interessen im Kampf zumindest an den wichtigsten Frontabschnitten mit der Bewusstseinsbildung zu verknüpfen, um bestehen und siegen zu können. Doch Hegemonie ist noch nicht Sieg. Nur Voraussetzung für das Schwerste, Riskanteste: Die Entscheidung im Kampf um die Macht.
Sämtliche Erfinder, Verkünder, Sucher neuer oder alter „dritter Wege” sagen grundsätzlich anderes als Gramsci, mögen ihre soziale Basis, ihre politische Wirkung im nationalen und internationalen Rahmen noch so unterschiedlich sein. Nämlich: Ist die Hegemonie errungen, ist das Ziel so gut wie erreicht. Und zuweilen wird diese Hegemonie auf eine bloße parlamentarische Linksmehrheit eingeschrumpft, ohne Rücksicht auf ihren inneren Zusammenhalt, ihre vorherrschende Zielsetzung und soziale Sprengkraft.
Wünsche werden leicht zu Vätern falscher Gedanken: So der Wunsch, das Riskanteste, Ungeheure, irgendwie umgehen zu können, zum Vater „dritter Wege”; der Hypothese, für die es in der Geschichte noch keinen einzigen Beweis gibt: Zerfällt die Hegemonie des Gegners, fällt auch seine Macht wie ein Kartenhaus in sich zusammen oder wenigstens stückweise von selber. Die „theoretische Untermauerung”, die Absicherung solcher Wunschgedanken, solcher Illusionen verlangt allemal eine Entstellung der marxistischen Staatstheorie. Etwa die Unterstellung, die Klassiker — Marx, Engels, Lenin — hätten im Staat nur ein Organ der Gewalt und sonst gar nichts gesehen. Unvergleichlich bequemer lässt sich dann argumentieren: Weil die Macht des Kapitals sich auf die Vorherrschaft bürgerlicher Meinungen stützt, fällt diese Macht im Augenblick, da diese Stütze bricht. Mittlerweile gibt es unzählige Exemplare dieses Argumentationsmusters, von denen jedes den Anspruch erhebt, brandneu, originell, j a schöpferisch zu sein.
Strategie der Arbeiterklasse verlangt umfassende Analyse
Zunächst zu dieser Unterstellung: Schon in der „Deutschen Ideologie” von Marx und Engels kann man nachlesen: „Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.”7 Ausgemacht und festgemacht ist hier eben die bürgerliche Hegemonie als Durchschnitt, als Regel. Und somit die Ausnahme ihrer Durchbrechung, die zu einschneidenden Änderungen führen kann. Abgeleitet wird die Regel aus der Ökonomie, aus den materiellen Lebensverhältnissen, aus der Basis. Aber auch die Ausnahme — und dies ist ein roter Faden durch die späteren Werke von Marx und Engels — aus den objektiven Widersprüchen in der Basis, die sich nie unmittelbar, direkt im Überbau widerspiegeln; aus Konflikten, die sich keineswegs von selber aufheben, sondern im Überbau, in Klassenkämpfen, im Ideenstreit bis zur Entscheidung ausgetragen werden müssen.
Marx, Engels, Lenin hielten es für das oberste Gebot der Wissenschaftlichkeit, eine möglichst allseitige Erfassung der Wirklichkeit, ihrer Widersprüche — des Weitertreibenden, Fortleitenden — anzustreben. Im besonderen waren sie überzeugt: Eine zielführende Strategie der Arbeiterklasse verlangt die Berücksichtigung sämtlicher wichtigen Elemente, auf die sich die Macht des Staates stützt, nicht allein in seinem Charakter, als organisierte Gewalt, auch in den Ideen, im „ideologischen Überbau”, in dessen Institutionen.
Hegemonie gepanzert durch Zwang
Nun war Gramsci kein Theoretiker der Ökonomie. Er nahm sich gar nicht eine Erforschung der Änderungen ökonomischer Bewegungsgesetze und ihrer Auswirkungen auf den Überbau vor. Er widmete einen großen Teil seiner Energie dessen Analyse, insbesondere der „ideologischen Apparate” und Funktionen, etwa der Intellektuellen, wofür er auch zweifellos die besten Voraussetzungen besaß. Auch die Ideengeschichte wird letzten Endes von den materiellen Lebensverhältnissen geprägt, in ihren Tendenzen bestimmt. Doch sie folgt auch eigenen Gesetzen. Etwa dem, dass man sich jeweils mit gerade oder noch vorherrschenden Gedanken auseinandersetzt, nicht allein beim Gegner. Auch in den eigenen Reihen. Und zu Gramscis Zeit dominierte noch — im Gegensatz zu Lenin — ökonomistisches Denken, das wähnt, jede Veränderung im Überbau direkt, exakt aus Verschiebungen an der Basis ableiten zu können; eine krasse Unterschätzung der aktiven Rolle des „subjektiven Faktors”, des Handelns von Menschen, Parteien, Organisationen. Daraus ergibt sich manche Unausgewogenheit, Überspitztheit von Formulierungen Gramscis. So wie er bewusst Akzente verschieben wollte — und damit durchaus recht hatte —, so ist es heute richtig und nötig, seine Positionen aus den Bedingungen ihrer Entstehung zu begreifen, an Heutigem zu messen, um zu verhindern, dass andere Seiten der Wirklichkeit zu kurz kommen. Was unsere Fragen betrifft, Gramscis Verhältnisse zum Leninismus, zur Problematik Staat—Hegemonie, ist unbedingt festzuhalten: Merkmal ist auch bei ihm die Einheit der wichtigsten Elemente. Vor allem dort, wo er seine Auffassungen zu Formeln verdichtet hat: Staat=Diktatur+Hegemonie, ist „Hegemonie gepanzert durch Zwang”.8

Und auch hier stehen sämtliche Erfinder, Verkünder oder Sucher „dritter Wege” auf grundsätzlich anderen Positionen. Alle zerbrechen diese Einheit, glänzen durch Einseitigkeit, lassen dieses oder jenes wichtige Element, oft gleich mehrere , überhaupt nicht oder nur für eine „längst versunkene Vergangenheit” gelten. Dafür drei Beispiele aus der österreichischen Arbeiterbewegung, mit sehr unterschiedlicher Bedeutung, verschiedenen Positionen, aus verschiedenen Zeiten. Der blutige Februar 1934 machte es unmöglich, die Tatsache, dass der Staat nicht zuletzt organisierte Gewalt ist, als Ausgeburt kommunistischen Dogmatismus” hinzustellen. Als Otto Bauer, bestürzt über die Ergebnisse seiner eigenen Politik, eine neue Strategie zu entwickeln versuchte, zerriss er, wie gewohnt, diesmal aber auf neue Weise, diese Einheit: durch Zerlegung der Geschichte in „zwei grundverschiedene Etappen”. In die „Blütezeit der Demokratie”, wo die bürgerlichen Ideen, „dermaßen selbstverständlich zu den herrschenden Ideen geworden sind, dass die herrschende Klasse gar nicht die Entrechtung anderer Klassen braucht”, die bürgerliche marxistischen Staatstheorie. Etwa die Unterstellung, die Klassiker — Marx, Engels, Lenin — hätten im Staat nur ein Organ der Gewalt und sonst gar nichts gesehen. Unvergleichlich bequemer lässt sich dann argumentieren: Weil die Macht des Kapitals sich auf die Vorherrschaft bürgerlicher Meinungen stützt, fällt diese Macht im Augenblick, da diese Stütze bricht. Mittlerweile gibt es unzählige Exemplare dieses Argumentationsmusters, von denen jedes den Anspruch erhebt, brandneu, originell, ja schöpferisch zu sein.
Strategie der Arbeiterklasse verlangt umfassende Analyse
Zunächst zu dieser Unterstellung: Schon in der „Deutschen Ideologie” von Marx und Engels kann man nachlesen: „Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.”7 Ausgemacht und festgemacht ist hier eben die bürgerliche Hegemonie als Durchschnitt, als Regel. Und somit die Ausnahme ihrer Durchbrechung, die zu einschneidenden Änderungen führen kann. Abgeleitet wird die Regel aus der Ökonomie, aus den materiellen Lebensverhältnissen, aus der Basis. Aber auch die Ausnahme — und dies ist ein roter Faden durch die späteren Werke von Marx und Engels — aus den objektiven Widersprüchen in der Basis, die sich nie unmittelbar, direkt im Überbau widerspiegeln; aus Konflikten, die sich keineswegs von selber aufheben, sondern im Überbau, in Klassenkämpfen, im Ideenstreit bis zur Entscheidung ausgetragen werden müssen.
Marx, Engels, Lenin hielten es für das oberste Gebot der Wissenschaftlichkeit, eine möglichst allseitige Erfassung der Wirklichkeit, ihrer Widersprüche — des Weitertreibenden, Fortleitenden — anzustreben. Im besonderen waren sie überzeugt: Eine zielführende Strategie der Arbeiterklasse verlangt die Berücksichtigung sämtlicher wichtigen Elemente, auf die sich die Macht des Staates stützt, nicht allein in seinem Charakter, als organisierte Gewalt, auch in den Ideen, im „ideologischen Überbau”, indessen Institutionen.
Hegemonie gepanzert durch Zwang
Nun war Gramsci kein Theoretiker der Ökonomie. Er nahm sich gar nicht eine Erforschung der Änderungen ökonomischer Bewegungsgesetze und ihrer Auswirkungen auf den Überbau vor. Er widmete einen großen Teil seiner Energie dessen Analyse, insbesondere der „ideologischen Apparate” und Funktionen, etwa der Intellektuellen, wofür er auch zweifellos die besten Voraussetzungen besaß. Auch die Ideengeschichte wird letzten Endes von den materiellen Lebensverhältnissen geprägt, in ihren Tendenzen bestimmt. Doch sie folgt auch eigenen Gesetzen. Etwa dem, dass man sich jeweils mit gerade oder noch vorherrschenden Gedanken auseinandersetzt, nicht allein beim Gegner. Auch in den eigenen Reihen. Und zu Gramscis Zeit dominierte noch — im Gegensatz zu Lenin — ökonomistisches Denken, das wähnt, jede Veränderung im Überbau direkt, exakt aus Verschiebungen an der Basis ableiten zu können; eine krasse Unterschätzung der aktiven Rolle des „subjektiven Faktors”, des Handelns von Menschen, Parteien, Organisationen. Daraus ergibt sich manche Unausgewogenheit, Überspitztheit von Formulierungen Gramscis. So wie er bewusst Akzente verschieben wollte — und damit durchaus recht hatte —, so ist es heute richtig und nötig, seine Positionen aus den Bedingungen ihrer Entstehung zu begreifen, an Heutigem zu messen, um zu verhindern, dass andere Seiten der Wirklichkeit zu kurz kommen. Was unsere Fragen betrifft, Gramscis Verhältnisse zum Leninismus, zur Problematik Staat—Hegemonie, ist unbedingt festzuhalten: Merkmal ist auch bei ihm die Einheit der wichtigsten Elemente. Vor allem dort, wo er seine Auffassungen zu Formeln verdichtet hat: Staat=Diktatur+Hegemonie, ist „Hegemonie gepanzert durch Zwang”.8
Und auch hier stehen sämtliche Erfinder, Verkünder oder Sucher „dritter Wege” auf grundsätzlich anderen Positionen. Alle zerbrechen diese Einheit, glänzen durch Einseitigkeit, lassen dieses oder jenes wichtige Element, oft gleich mehrere , überhaupt nicht oder nur für eine „längst versunkene Vergangenheit” gelten. Dafür drei Beispiele aus der österreichischen Arbeiterbewegung, mit sehr unterschiedlicher Bedeutung, verschiedenen Positionen, aus verschiedenen Zeiten. Der blutige Februar 1934 machte es unmöglich, die Tatsache, dass der Staat nicht zuletzt organisierte Gewalt ist, als Ausgeburt kommunistischen Dogmatismus” hinzustellen. Als Otto Bauer, bestürzt über die Ergebnisse seiner eigenen Politik, eine neue Strategie zu entwickeln versuchte, zerriss er, wie gewohnt, diesmal aber auf neue Weise, diese Einheit: durch Zerlegung der Geschichte in „zwei grundverschiedene Etappen”. In die „Blütezeit der Demokratie”, wo die bürgerlichen Ideen, „dermaßen selbstverständlich zu den herrschenden Ideen geworden sind, dass die herrschende Klasse gar nicht die Entrechtung anderer Klassen braucht”, die bürgerliche Demokratie der Arbeiterklasse „einschläfert”… und in eine Periode der Siege des Faschismus, wo der Zertrümmerung der bürgerlichen Demokratie nur eine schlagende Antwort folgen kann: die Diktatur des Proletariats.9 Solches Entweder-Oder kann einer Rechtfertigung der Sozialdemokratie, ihres Zurückweichens vor dem Faschismus dienen, nicht aber der Begründung einer revolutionären Strategie.
Der Teufelskreis vormarxistischer Aufklärung
Offen bleibt alles für den Fall, wo dem Sturz des Faschismus nicht der Sozialismus folgt, sondern bloß die bürgerlich-demokratische Restauration. Bauers Zweiteilung der Geschichte wurde durch die Geschichte als pure Konstruktion erwiesen. In einer Reihe von Ländern trat ein, was er schon für „historisch” unmöglich erklärt hatte, was zu verhindern — im Interesse des Kampfs für den Sozialismus — nicht zuletzt eine der Realität angemessene Strategie erfordert hätte: die „bürgerlich-demokratische” Restauration.
Ein weiteres Beispiel aus jüngster Zeit. Zur Erfahrungstatsache, dass auch eine absolute SP-Mehrheit den Sozialismus nicht um einen Schritt näherbringt, bemerken in einem Artikel mit dem Titel „Überholter Austromarxismus?”.wMichael Häupel, Manfred Matzka, Peter Pelinka: „Die gesamte Rechtsordnung, das gesamte einer sozialistischen Regierung zur Verfügung stehende Steuerungssystem ist historisch und strukturell von der bürgerlichen Hegemonie geprägt und funktioniert am besten nur in ihrem Sinn: Es ist daher nur begrenzt gesellschaftsverändernd einsetzbar.” Auch hier sticht die Einseitigkeit der Betrachtungsweise ins Auge. Wird der bürgerliche Charakter des staatlichen Steuerungssystems wirklich bloß oder auch nur erstrangig von der Vorherrschaft bürgerlicher Ideen geprägt? Welche Rolle spielt da der bürgerliche Charakter der Ökonomie? Hört der „physische Zwangsapparat” des Staats auf zu wirken oder gar zu existieren, wo er nicht weithin sichtbar, auf dramatische Weise eingesetzt wird? Von vormarxistischer Aufklärung kennt man den Teufelskreis: Die Ideen werden vom Milieu bestimmt. Und was bestimmt das Milieu? Die Ideen! Mit diesem Instrumentarium, bei Ausklammerung von Schlüsselfragen, von Auseinandersetzungen mit antimarxistischen Positionen, legt man — ob man’s will oder nicht — den Trugschluss nahe, es genüge, die Ideen zu ändern, um den Steuerungsapparat des bürgerlichen Staats der Gesellschaftsänderung, dem Sozialismus dienstbar machen zu können.
Ein drittes Beispiel: Sogar zur theoretischen „Erhöhung” von Heinz Fischers „Doppelstrategie der Verwaltung und Verwandlung” der kapitalistischen Gesellschaft wird Gramsci strapaziert. Freilich bloß mit einem verstümmelten Zitat aus zweiter oder dritter Hand. Fischers erste fundamentale Entdeckung kategorisch formuliert: „Staatliche Unterdrückungsapparate gibt es nur noch in primitiven öde totalitäten Gesellschaften.”11 Gramscis Theorie der Hegemonie nimmt bei Fischer folgende kümmerliche Gestalt an: „Dieser Kampf um die geistige und moralische Führung in der Gesellschaft ist der Kern des politischen Wettbewerbs unserer Tage. Wer ihn gewinnt, wird das Europa der nächsten Jahrzehnte gestalten, und die Sozialdemokratie muss ihre Strategie nach dieser Tatsache richten.”12
„Dritter Weg” lebt von Einseitigkeit
Mit Gramsci hat das insofern zu tun, als es eine radikale Verfälschung, ja Verneinung seines Grundgedankens ist: Hegemonie sozialistischen Bewusstseins ist nur im Kampf gegen das Kapital auf allen Ebenen, in allen Erscheinungsformen zu erreichen. Fischers „Hegemonie” ist der „Konsens der Sozialpartnerschaft”, die das Kapital für unentbehrlich erklärt, ja sogar für sozial, wenn die Sozialdemokratie permanent für Kompromisse sorgt. Durchaus folgerichtig schließt Fischer: „Je größer der Konsens, desto weniger kann er bestehende Verhältnisse radikal in Frage stellen.”13 Dieser „Logik” angemessen ist sein kühnstes Ziel: „Man kann versuchen, an unserer Gesellschaftsordnung jene Änderungen vorzunehmen, die ihre destruktiven und inhumanen Tendenzen eliminieren oder zumindest reduzieren.. ,”14 Schon ist aus dem Kapitalismus „unsere” Gesellschaftsordnung geworden. Aus der „Umgestaltung” die bloße Verwaltung, gepaart mit dem frommen Wunsch, dem Kapitalismus seine schließlich tödlichen Widersprüche abzugewöhnen, um ihn erhalten zu können. Die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, die Tatsache, dass auch die Verwaltung des Kapitalismus durch Sozialdemokraten in Krisenzeiten zur „Mangelverwaltung” wird, zur Belastung der arbeitenden Bevölkerung im Interesse des Kapitals — sie begründen hinlänglich, warum dergleichen noch nie zu einer sozialistischen Hegemonie” geführt hat, aber schon des Öfteren zum Verlust sozialdemokratischer Parlamentsmehrheiten.
Nicht im entferntesten denken wir an eine politische Gleichstellung so unterschiedlicher Positionen. Theoretisch charakteristisch ist jedoch — und das wollten wir an österreichischen Beispielen demonstrieren: Alle Konzepte von „dritten Wegen” leben von Einseitigkeit, vom Ignorieren, vom Nicht-wahrhaben-Wollen objektiver Gegebenheiten und Widersprüche, woraus sie eine “Höhere Theorie” oder gar eine „höhere Moral” machen wollen. Was den Fragenkomplex Staat—Hegemonie betrifft, lassen sich die zahllosen Varianten auf ein paar Grundmuster reduzieren: Herrschaft wird in Krisenzeiten angeblich ausschließlich durch physische Gewalt ausgeübt, aufrechterhalten. In ruhigen Zeiten sorgt dafür ausschließlich die Hegemonie. Eben diese Ausschließlichkeit, dieses Entweder-Oder ignoriert die Vielfalt der Realität, die objektive Dialektik zwischen diesen Faktoren, die täglich sich von neuem erweist. Natürlich ist es taktisch höchst bedeutsam, genau zu bestimmen, was überwiegt: Zwang oder Hegemonie; wie sie sich mischen, ergänzen und — so weit voraussehbar— mischen werden. Strategisch wird es fatal, hält man nur das eine oder das andere für möglich. Nicht einmal das blutigste faschistische Regime wird auf Versuche verzichten, das unbequeme Sitzen auf Bajonetten durch einige „hegemoniale” Elemente zu polstern. Und auch die allerfriedlichste Kapitalherrschaft hat noch nie — in diesem Jahrhundert — auf Bereitstellung eines Unterdrückungsapparates verzichtet.
Hegemonie bedeutet nicht Entmachtung des Gegners
Noch mehr: Diese Apparate und Organe — etwa Polizei und Gerichte — sind auch in den „normalsten” Zeiten ein unabdingbares Element zur Sicherung für das Funktionieren der Hegemonie. Stehen doch diese Apparate — wie Gramsci zu bedenken gab — als Rückhalt hinter den „privaten” Institutionen. Trachten sie doch — weil keine Hegemonie je total, absolut ist —, jene Gruppen „ganz legal” zu disziplinieren, einzuschüchtern, die weder aktiv noch passiv zustimmen.15 Wo immer bürgerliche Hegemonie abbröckelt, politische Labilität um sich greift, Regierungsunfähigkeit droht, nehmen allemal die Tendenzen zur Entdemokratisierung zu, wird durch die hegemonialen Löcher der Panzer sichtbar.
Auch diese Gesetzmäßigkeit hat Gramsci festgehalten, in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Hegemonie-Theorie: „Neigt der ideologische Block zur Zerfall, dann kann an die Stelle der Spontaneität der Zwang in immer weniger maskierten und weniger indirekten Formen treten, bis es schließlich zu regelrechten Polizeiübergriffen und Staatsstreichen kommt.”16 Die Tragödie der sozialistischen Bewegung in Chile war eine blutige Lektion. Jeder Tag bringt neue Beispiele dafür: Hier hat sich nichts „grundlegend gewandelt”. Vom Militärputsch in der Türkei über Staatsstreichversuche in Spanien und Griechenland, über die Kette der Folter- und Henkerregimes in Lateinamerika bis zu jenem Italien, wo angeblich Unterdrückungsapparate so gut wie nichts mehr zu bedeuten haben, wo aber christlich-demokratische, sozialdemokratische, ja sogar sozialistische Minister in einer Geheimloge mit führenden Militärs kürzlich Rechtsputschpläne geschmiedet haben.
Diese Realitäten, teuer bezahlte Erfahrungen beherzigend, heißt es im Programm der KPÖ: „Jede Umwälzung, ob antimonopolistisch oder sozialistisch — setzt voraus, dass die Arbeiterklasse, geführt von einer starken, revolutionären Partei zur politisch, ideologisch, moralisch führenden Kraft im Volk wird, anders gesagt, die .Hegemonie’ erringt. Das ist die Voraussetzung jeder Umwälzung. Doch die Erringung der Hegemonie ist noch nicht gleichbedeutend mit der politischen und ökonomischen Entmachtung des Gegners. So lange das Kapital über Machtpositionen in Staat, Wirtschaft und Massenmedien verfugt, wird es mit ihrer Hilfe trachten, Zwietracht im Volk zu säen, zu verwirren, zu korrumpieren, zu entsolidarisieren, einzuschüchtern und — wenn möglich — zu terrorisieren, um die Arbeiterklasse zurückzuwerfen.”
Gramscis Methode und heutige Bedingungen
Auf die möglichst gründliche Erfassung aller Funktionen des Staates, der Stützen der Herrschaft des Kapitals — in der Ökonomie, in Apparaten, Organisationen, sei es des Staates im engeren Sinn oder des politischen Systems, im privaten oder öffentlichen Leben — kommt es mehr denn je an.
Zumal der Staat des staatsmonopolistischen Systems — in dieser Hinsicht ungemein fruchtbar — immer neue Funktionen gebärt. Die Verzahnung zwischen ihm und Teilen des politischen Systems verwischt zuweilen schon die Grenze. Und nicht zuletzt, weil die schon von Gramsci vermerkte Tendenz, dass die spontane, „naturwüchsige” Reproduktion der Vorherrschaft der Ideen der Herrschenden immer weniger reicht, „Durchstaatlichung” immer mehr nachhelfen muss, sich ungemein beschleunigt hat. Ja, die Häufung „alternativer” Bewegungen verschiedenster Art zeugt vom Verschleiß vor allem jener Teile des politischen Systems, von einer Abnahme ihrer konsensbildenden Kraft, die am engsten mit dem Staat, dem System verwachsen sind. Weil die Welt sich weitergedreht hat, weil es hier eine Fülle neuer Erscheinungen gibt, ist zu fragen, ob das seinerzeit von Gramsci dafür entwickelte Instrumentarium heute noch brauchbar ist: Seine methodische — nicht organische — Trennung des „integralen Staates” (im weitesten Sinn) in eine „politische Gesellschaft” einerseits (Staat im engeren Sinn: hohe Verwaltung, Armee, Justiz, Polizei usw.) und die „bürgerliche Gesellschaft” (societät civile) andererseits (Kirchen, Verbände, Parteien, Gewerkschaften, Schulen usw.).
Die Problematik solcher methodischen Zweiteilung wird offenkundig in einer beachtenswerten Arbeit von Annegret Kramer, „Gramscis Interpretation des Marxismus”.11 Die Autorin bekennt sich zur Absicht, Gramsci gegen den Vorwurf des „subjektiven Idealismus”, des „Voluntarismus” zu verteidigen: Sie anerkennt die Bedeutung des Staatsapparates für die Aufrechterhaltung des Systems. Doch sie formuliert zugleich: „Eigentliche Machtbasis der Bourgeoisie ist vielmehr die bürgerliche Gesellschaft mit ihren hegemonialen Institutionen.”ls Wohlgemerkt, die „bürgerliche Gesellschaft”, bei Gramsci „unterstes Stockwerk des Überbaus”, zwischen „Staat und ökonomischer Struktur”. Wäre sie tatsächlich die „eigentliche Machtbasis”, dann müsste man unbedingt daraus schließen: Erobert man sie, hat man schon die eigentliche Macht — über Staat wie Ökonomie.
Wir unterstellen keineswegs eine solche Schlussfolgerung. Wir stellen bloß fest: Wo immer man — sei es auch nur methodisch — eine „bürgerliche Gesellschaft” von den materiellen Lebensverhältnissen, von den bürgerlichen Eigentums- und Verkehrsbedingungen trennt und dabei für einen Moment ihre Bedeutung aus dem Auge verliert, kann man idealistischen Konstruktionen, auch wenn man sie bekämpfen möchte, ungewollt Hilfe leisten. Eine Unzahl idealistischer Konzepte und Utopien hat zur Voraussetzung, dass man — in der Phantasie — den Überbau vom Boden, von der Basis reißt, worüber er sich erhebt. Das reicht von Verheißungen einer „fortschreitenden Dezentralisierung und Machtentflechtung” im Überbau — bei gleichzeitig fortschreitender Konzentration und Zentralisierung des Kapitals in der Basis, der Herausbildung von Kapitalkolossen, die über Zehntausende hinweg stapfen können. Nicht zu vergessen der Traum, über der Basis des Monopolkapitalismus den Prachtbau einer qualitativ „völlig neuen Demokratie” errichten zu können.
Unterscheidung zwischen Zerschlagen und Übernehmen
Die unleugbar zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Realität verleiht der Beantwortung der Fragen, die Lenin in Hinblick auf Hegemonie und Staat stellte, immer größere Bedeutung: Welche Apparate, Institutionen, Organe — ob staatlich, halbstaatlich oder „privat” — können gewonnen, in ihren Funktionen gewandelt, dürfen also nicht zerstört werden? Welche müssen zerschlagen werden? Einseitigkeit hat es natürlich auch hier viel leichter. Die anarchistische, die radikal fordert: Alles muss weg, nicht nur dieser Staat, sondern jeder, und auch die alten „versklavenden” Produktivkräfte. Und die revisionistische, die beteuert: Alles kann man übernehmen; es gibt jedoch nichts, das sich nicht allmählich, irgendwann einmal in sein Gegenteil verkehren ließe.
Eine der ausgefallensten Begründungen dafür stammt von Nikos Poulantzas, der in Diskussion über Gramsci häufig zitiert wird. Einerseits wirft er Gramsci die gelegentliche Neigung vor, die Bedeutung der Repressionsapparate im Verhältnis zu den ideologischen Apparaten zu vernachlässigen. Er unterstreicht die Gefahr, die von dieser Unterdrückungsmaschinerie ausgehen kann, ja spricht vom gegenwärtigen „autoritären Obrigkeitsstaat”. Doch zugleich behauptet er, den Begriff der Zerschlagung des Staatsapparates könne man nicht gebrauchen, hätten doch Marx und Lenin — sofern von ihm feststellbar — darunter die Zerschlagung der Organe der repräsentativen Demokratie gemeint, ihre ausschließliche Ersetzung durch direkte Demokratie!19
Vielleicht war Poulantzas nicht bekannt, dass Lenin, noch kurz vor dem Roten Oktober, ausdrücklich von der Möglichkeit einer „kombinierten Staatsform” sprach, mit verfassunggebender Versammlung und Sowjet. Auch bekannt müsste sein: Die präzise Unterscheidung zwischen Zerschlagen und Übernehmen verlangte Lenin, weil er das Zerschlagen lediglich auf jene Institutionen bezogen wissen haben wollte, die unverbesserlich reaktionär, durch nichts von der Bourgeoisie zu trennen, nicht unter Kontrolle des Volkes zu bringen sind.
Gramscis Bemühungen um die Partei
Wie steht Gramsci zu dieser Problematik? „Es ist notwendig, dass die Werktätigen die Macht übernehmen. Aber sie werden das niemals erreichen können, solange sie sich einbilden, sie durch die Organe des bürgerlichen Staates erobern und ausüben zu können.”20 Das erklärt, warum bei Gramsci nirgends Garantien für das Fortbestehen dieser oder jener Institution zu finden sind. Demokratische Volksvertretungen hielt er für unerlässlich. Die Verleihung eines „absoluten Werts” für diese oder jene Institution, unabhängig von ihren sozialen Funktionen, für typisch bürgerliches Denken. In jeder Zeile Gramscis über Bündnisse spürt man die rückhaltlose Bejahung der Gleichberechtigung, der Notwendigkeit gegenseitiger Achtung. Aber man wird auch nicht die leiseste Spur „Pluralismus” finden, nichts, was Zugeständnisse im Grundsätzlichen aus taktischen Gründen entschuldigen könnte.
Weil die Unterscheidung zwischen verschiedenen staatlichen, halbstaatlichen, privaten Apparaten, Organen und Institutionen hinsichtlich Funktion, Beeinflussbarkeit im Klassenkampf immer wichtiger wird, weil eine organische Verflechtung zwischen dem Staat im engeren Sinn und Teilen des politischen Systems, die er sich vorlagert, dienstbar macht, fortschreitet, scheint mir, dass eine methodische Trennung heute eher hemmend als fördernd ist für die unerlässliche konkrete Analyse womöglich jedes dieser Elemente.
Dieser Artikel beschränkt sich — wie eingangs festgestellt — lediglich auf eine Frage: Gramscis Beitrag zur Revolutionstheorie, sein Verhältnis zum Leninismus. Wir haben nachgewiesen, dass Gramsci in der Theorie der Hegemonie, des Staats, hinsichtlich der Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats unmittelbar an Lenin anknüpfte, dass hier die Berührungspunkte am stärksten sind. Aus Gramsci einen „Schöpfer einer antileninistischen Strategie” machen wollen, heißt, sein Leben und Wirken völlig verkennen oder verfälschen. „Die Gründung und dann die Leitung der Kommunistischen Partei”, sagte Togliatti, „sind die entscheidenden Akte seiner politischen Tätigkeit und seins Lebens. All seine historischen, politischen, philosophischen Untersuchungen enden bei der Lehre von der Partei…, die den Kampf für die Eroberung der Macht leitet und sich der politischen Macht bedient, um eine neue Gesellschaft zu organisieren.”21 Gramscis besonderes Verdienst war es, schon zu einer Zeit, als viele Revolutionäre an einen raschen, recht kurzen Weg zum Ziel dachten, die Schwierigkeiten, die Unerlässlichkeit des „Heranführens an die Revolution”, die Lenin als zentrale Aufgabe der Kommunisten bezeichnet hatte, erfasst und unter diesem Gesichtspunkt Geschichte, Struktur, Kultur seines Landes analysiert zu haben.
Dass er dabei die Möglichkeit einer revolutionär-demokratischen Etappe auf dem Weg zum Sozialismus, auf die Lenin 1917 verwiesen hatte, nicht näher untersuchte, schmälert nicht sein Verdienst. Sie ist heute in die Strategie der überwältigenden Mehrheit der kommunistischen Parteien eingegangen — als nationaldemokratische, als antifaschistische, als antimonopolistische Umwälzung, je nach den Bedingungen.
Es ist verfehlt, theoretische Verallgemeinerungen, etwa die Erfindung eines „Gramscismus” vorzunehmen, unter Missachtung oder Geringschätzung der nachweisbaren Zusammenhänge, die Gramscis Denken und Taten mit den realen Bewegungen, mit der Kommunistischen Internationale verbanden. Gegenüber Versuchen, ihn aus diesen Zusammenhängen zu reißen, ist nach wie vor Togliattis Hinweis aus dem Jahr 1958 angebracht: „Die wissenschaftliche Erkenntnis, zu der uns das Werk Gramscis führt, ist also nicht die einer Wissenschaft, mit deren Hilfe man die Aufgaben des unmittelbaren Kampfes umgehen kann, indem man auf sie verzichtet, sie aufschiebt oder auf sie herabblickt.. ,”22
Anmerkungen
1 Palmiro Togliatti, Der Leninismus im Denken und Handeln von Antonio Gramsci. In: Hans Heinz Holz/Hans Jörg Sandkühlcr (Herausgeber), Betr.: Gramsci, Philosophie und revolutionäre Politik in Italien, Köln 1980, S. 71
2 W. I.Lenin, Karl Marx. In: Lenin, Werke, Bd.21, Berlin 1960,5.64
3 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, Frankfurt am Main 1980, S. 150
4 A. Gramsci, Die süditalienische Frage, Berlin 1955, S. 8
5 Ebenda
6 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 345
1 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. In: Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958,5.46
8 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 343
9 Otto Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen? Bratislava 1936, S. 112f.
10 Michael Häupel/Manfred Matzka/Peter Pelinka: Überholter Austromarxismus? In: Zukunft, Sozialistische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Wien 1980,
April 11 Heinz Fischer, Positionen und Perspektiven, Wien 1977, S. 33
12 Ebenda, S. 34
13 Ebenda, S. 35
14 Ebenda, S. 184
15 A. Gramsci, Opere, Bd. 3, Turin 1966, S. 9
16 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 297
17 Annegret Kramer, Gramscis Interpretation des Marxismus. In: Betr.: Gramsci, a.a.O.
18 Ebenda, S. 176
” Nikos Poulantzas, Annäherung an den Sozialismus, West-Berlin 1980, S. 55,57,74
20 A. Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, S. 95
21 P. Togliatti, Der Leninismus im Denken und Handeln von A. Gramsci, S. 88
22 Ebenda, S. 74
Aus: »Weg und Ziel«, 1981

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