Gedruckt nachzulesen in: Lenin Werke, Band 19, Seite 3-9; Dietz Verlag Berlin, 1977
W.I. Lenin
Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1)
Die Lehre von Marx
stößt in der ganzen zivilisierten Welt auf die erbittertste Feindschaft
und den größten Haß der gesamten bürgerlichen Wissenschaft (der
offiziellen wie der liberalen), die im Marxismus eine Art “schädlicher
Sekte” erblickt. Ein anderes Verhalten kann man auch nicht erwarten,
denn eine “unparteiische” Sozialwissenschaft kann es in einer auf
Klassenkampf aufgebauten Gesellschaft nicht geben. Jedenfalls ist es
Tatsache, daß die gesamte offizielle und liberale Wissenschaft die
Lohnsklaverei verteidigt, während der Marxismus dieser Sklaverei
schonungslosen Kampf angesagt hat. In einer Gesellschaft der
Lohnsklaverei eine unparteiische Wissenschaft zu erwarten wäre eine
ebenso törichte Naivität, wie etwa von den Fabrikanten Unparteilichkeit
zu erwarten in der Frage, ob man nicht den Arbeitern den Lohn erhöhen
sollte, indem man den Profit des Kapitals kürzt.
Doch nicht das
allein. Die Geschichte der Philosophie und die Geschichte der
Sozialwissenschaft zeigen mit aller Deutlichkeit, daß der Marxismus
nichts enthält, was einem “Sektierertum” im Sinne irgendeiner
abgekapselten, verknöcherten Lehre ähnlich wäre, die abseits von der
Heerstraße der Weltzivilisation entstanden ist. Im Gegenteil: Die ganze
Genialität Marx’ besteht gerade darin, daß er auf die Fragen Antworten
gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits
gestellt hatte. Seine Lehre entstand als direkte und unmittelbare
Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der
politischen Ökonomie und des Sozialismus.
Die Lehre von Marx
ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und
harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die
sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei
Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die
rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in
Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des
französischen Sozialismus hervorgebracht hat. Auf diese drei Quellen und
gleichzeitige Bestandteile des Marxismus wollen wir denn auch kurz
eingehen.
Die Philosophie des
Marxismus ist der Materialismus. Im Laufe der gesamten neuesten
Geschichte Europas und insbesondere Ende des 18. Jahrhunderts in
Frankreich, wo eine entscheidende Schlacht gegen alles mittelalterliche
Gerümpel, gegen den Feudalismus in den Einrichtungen und in den Ideen
geschlagen wurde, erwies sich der Materialismus als die einzige
folgerichtige Philosophie, die allen Lehren der Naturwissenschaften treu
bleibt, die dem Aberglauben, der Frömmelei usw. feind ist. Die Feinde
der Demokratie waren daher aus allen Kräften bemüht, den Materialismus
“zu widerlegen”, zu untergraben und zu diffamieren, und nahmen die
verschiedenen Formen des philosophischen Idealismus in Schutz, der
stets, auf diese oder jene Art, auf eine Verteidigung oder Unterstützung
der Religion hinausläuft.
Marx
und Engels verfochten mit aller Entschiedenheit den philosophischen
Materialismus und legten zu wiederholten Malen dar, wie grundfalsch jede
Abweichung von dieser Grundlage ist. Am klarsten und ausführlichsten
sind ihre Anschauungen in Engels’ Werken “Ludwig Feuerbach” und
“Anti-Dühring” niedergelegt, die – wie das “Kommunistische Manifest” –
Handbücher jedes klassenbewußten Arbeiters sind.
Aber Marx blieb
nicht beim Materialismus des 18. Jahrhunderts stehen, er entwickelte die
Philosophie weiter. Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der
deutschen klassischen Philosophie und besonders des Hegelschen Systems,
das seinerseits zum Materialismus Feuerbachs geführt hatte. Die
wichtigste dieser Errungenschaften ist die Dialektik, d.h. die Lehre von
der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von
Einseitigkeit freiesten Gestalt, die Lehre von der Relativität des
menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig
entwickelnden Materie gibt. Die neuesten Entdeckungen der
Naturwissenschaft – das Radium, die Elektronen, die Verwandlung der
Elemente – haben den dialektischen Materialismus von Marx glänzend
bestätigt, entgegen den Lehren der bürgerlichen Philosophen mit ihrer
ständig “neuen” Rückkehr zum alten und faulen Idealismus.
Marx, der den
philosophischen Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn zu
Ende und dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf die Erkenntnis der
menschlichen Gesellschaft aus. Der historische Materialismus von Marx
war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das
Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte
und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich
einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die
zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge
des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt –
wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.
Genauso wie die Erkenntnis des Menschen die von ihm unabhängig
existierende Natur, d.h. die sich entwickelnde Materie widerspiegelt, so
spiegelt die gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen (d.h. die
verschiedenen philosophischen, religiösen, politischen usw. Anschauungen
und Lehren) die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider. Die
politischen Einrichtungen sind ein Überbau auf der ökonomischen Basis.
Wir sehen zum Beispiel, wie die verschiedenen politischen Formen der
heutigen europäischen Staaten dazu dienen, die Herrschaft der
Bourgeoisie über das Proletariat zu festigen.
Marx’ Philosophie
ist der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit –
insbesondere der Arbeiterklasse – mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben
hat.
Nachdem Marx
erkannt hatte, daß die ökonomische Struktur die Basis ist, worauf sich
der politische Überbau erhebt, wandte er seine Aufmerksamkeit vor allem
dem Studium dieser ökonomischen Struktur zu. Das Hauptwerk von Marx –
“Das Kapital” – ist der Erforschung der ökonomischen Struktur der
modernen, d.h. der kapitalistischen Gesellschaft gewidmet.
Die vormarxsche
klassische politische Ökonomie entstand in England, dem entwickeltsten
kapitalistischen Land. Adam Smith und David Ricardo, die die ökonomische
Struktur untersuchten, legten den Grundstein der Arbeitswerttheorie.
Marx setzte ihr Werk fort. Er begründete diese Theorie exakt und
entwickelte sie folgerichtig. Er zeigte, daß der Wert einer jeden Ware
durch die Menge der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt
wird, die zur Produktion der Ware erforderlich ist.
Wo die bürgerlichen
Ökonomen ein Verhältnis von Dingen sahen (Austausch Ware gegen Ware),
dort enthüllte Marx ein Verhältnis von Menschen. Der Austausch von Waren
drückt die Verbindung zwischen den einzelnen Produzenten vermittels des
Marktes aus. Das Geld bedeutet, daß diese Verbindung immer enger wird
und das gesamte wirtschaftliche Leben der einzelnen Produzenten
untrennbar zu einem Ganzen verknüpft. Das Kapital bedeutet eine weitere
Entwicklung dieser Verbindung: Die Arbeitskraft des Menschen wird zur
Ware. Der Lohnarbeiter verkauft seine Arbeitskraft dem Besitzer des
Bodens, der Fabriken, der Arbeitsmittel. Einen Teil des Arbeitstages
verwendet der Arbeiter darauf, die zu seinem und seiner Familie
Unterhalt notwendigen Ausgaben zu decken (Arbeitslohn), den anderen Teil
des Tages jedoch arbeitet der Arbeiter unentgeltlich; er schafft den
Mehrwert für den Kapitalisten, die Quelle des Profits, die Quelle des
Reichtums der Kapitalistenklasse. Die Lehre vom Mehrwert ist der
Grundpfeiler der ökonomischen Theorie von Marx.
Das durch die
Arbeit des Arbeiters geschaffene Kapital unterdrückt den Arbeiter,
ruiniert die Kleinbesitzer und erzeugt eine Armee von Arbeitslosen. In
der Industrie ist der Sieg des Großbetriebes auf den ersten Blick
sichtbar, aber auch in der Landwirtschaft sehen wir die gleiche
Erscheinung: Die Überlegenheit des kapitalistischen landwirtschaftlichen
Großbetriebes wächst, die Anwendung von Maschinen nimmt zu, die
Bauernwirtschaft gerät in die Schlinge des Geldkapitals, sie verfällt
unter der Last ihrer technischen Rückständigkeit dem Niedergang und
Ruin. In der Landwirtschaft nimmt der Niedergang des Kleinbetriebs
andere Formen an, doch der Niedergang selbst ist eine unbestreitbare
Tatsache.
Durch die
Zerschlagung der Kleinproduktion bewirkt das Kapital eine Steigerung der
Arbeitsproduktivität und die Schaffung einer Monopolstellung der
Vereinigungen der Großkapitalisten. Die Produktion selbst wird immer
mehr zur gesellschaftlichen Produktion – Hunderttausende und Millionen
von Arbeitern werden zu einem planmäßigen Wirtschaftsorganismus
zusammengefaßt – , das Produkt der gemeinsamen Arbeit aber eignet sich
eine Handvoll Kapitalisten an. Es wachsen die Anarchie der Produktion,
die Krisen, die tolle Jagd nach Märkten, die Existenzunsicherheit für
die Masse der Bevölkerung. Die kapitalistische Ordnung, die Abhängigkeit
der Arbeiter vom Kapital steigert, schafft gleichzeitig die gewaltige
Macht der vereinigten Arbeit.
Von den ersten
Anfängen der Warenwirtschaft, vom einfachen Austausch an, verfolgte Marx
die Entwicklung des Kapitalismus bis zu seinen höchsten Formen, bis zur
Großproduktion.
Und die Erfahrungen
aller kapitalistischen Länder, der alten wie der neuen, zeigen einer
von Jahr zu Jahr wachsenden Zahl von Arbeitern anschaulich die
Richtigkeit dieser Lehre von Marx. Der Kapitalismus hat in der ganzen
Welt gesiegt, aber dieser Sieg ist nur die Vorstufe zum Sieg der Arbeit
über das Kapital.
Als der Feudalismus
gestürzt und die “freie” kapitalistische Gesellschaft zur Welt gekommen
war, zeigte es sich sogleich, daß diese Freiheit ein neues System der
Unterdrückung und Ausbeutung der Werktätigen bedeutet. Alsbald kamen
verschiedene sozialistische Lehren auf, als Widerspiegelung dieser
Unterdrückung und als Protest gegen sie. Doch der ursprüngliche
Sozialismus war ein utopischer Sozialismus. Er kritisierte die
kapitalistische Gesellschaft, verurteilte und verfluchte sie, träumte
von ihrer Vernichtung, phantasierte von einer besseren Ordnung und
suchte die Reichen von der Unsittlichkeit der Ausbeutung zu überzeugen.
Der utopische
Sozialismus war jedoch nicht imstande, einen wirklichen Ausweg zu
zeigen. Er vermochte weder das Wesen der kapitalistischen Lohnsklaverei
zu erklären noch die Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus zu
entdecken, noch jene gesellschaftliche Kraft zu finden, die fähig ist,
Schöpfer einer neuen Gesellschaft zu werden.
Indessen enthüllten
die stürmischen Revolutionen, von denen der Untergang des Feudalismus,
der Leibeigenschaft, überall in Europa und besonders in Frankreich
begleitet war, immer augenfälliger den Kampf der Klassen als Grundlage
der gesamten Entwicklung und als ihre treibende Kraft.
Kein einziger Sieg
der politischen Freiheit über die Klasse der Feudalherren wurde errungen
ohne deren verzweifelten Widerstand. Kein einziges kapitalistisches
Land bildete sich auf mehr oder weniger freier, demokratischer
Grundlage, ohne daß ein Kampf auf Leben und Tod zwischen den
verschiedenen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft stattfand.
Die Genialität
Marx’ besteht darin, daß er es früher als alle anderen verstand, daraus
jene Schlußfolgerungen zu ziehen und konsequent zu entwickeln, die uns
die Weltgeschichte lehrt. Diese Schlußfolgerung ist die Lehre vom
Klassenkampf.
Die Menschen waren
in der Politik stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug,
und sie werden es immer sein, solange sie nicht lernen, hinter allen
möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen,
Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klassen
zu suchen. Die Anhänger von Reformen und Verbesserungen werden immer von
den Verteidigern des Alten übertölpelt werden, solange sie nicht
begreifen, daß sich jede alte Einrichtung, wie sinnlos und faul sie auch
erscheinen mag, durch die Kräfte dieser oder jener herrschenden Klassen
behauptet. Um aber den Widerstand dieser Klassen zu brechen, gibt es
nur ein Mittel: innerhalb der uns umgebenden Gesellschaft selbst Kräfte
zu finden, aufzuklären und zum Kampf zu organisieren, die imstande – und
infolge ihrer gesellschaftlichen Lage genötigt – sind, die Kraft zu
bilden, die das Alte hinwegzufegen und das Neue zu schaffen vermag.
Erst der
philosophische Materialismus von Marx hat dem Proletariat den Ausweg aus
der geistigen Sklaverei gewiesen, in der alle unterdrückten Klassen
bisher ihr Leben fristeten. Erst die ökonomische Theorie von Marx hat
die wirkliche Stellung des Proletariats im Gesamtsystem des Kapitalismus
erklärt.
In der ganzen Welt,
von Amerika bis Japan und von Schweden bis Südafrika, mehren sich die
selbständigen Organisationen des Proletariats. Es schreitet in seiner
Aufklärung und Erziehung fort, indem es seinen Klassenkampf führt, es
entledigt sich der Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft, schließt
sich immer enger zusammen und lernt, an seine Erfolge den richtigen
Maßstab anzulegen, stählt seine Kräfte und wächst unaufhaltsam.
“Prosweschtschenije” Nr. 3, März 1913,
1 W.I. Lenins
Artikel “Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus” wurde in der
Nr. 3 der Zeitschrift “Prosweschtschenije”, Jahrgang 1913,
veröffentlicht, die dem 30. Todestag von Karl Marx gewidmet war.
“Prosweschtschenije”
(Die Aufklärung) – theoretisches Organ der Bolschewiki, erschien
monatlich ab Dezember 1911 legal in Petersburg. Die Zeitschrift, die auf
Anregung Lenins gegründet worden war, trat an die Stelle der von der
zaristischen Regierung verbotenen Moskauer bolschewistischen Zeitschrift
“Mysl” (Der Gedanke). Lenin leitete die Zeitschrift
“Prosweschtschenije” vom Ausland her; sie veröffentlichte seine
Arbeiten: “Prinzipielle Fragen der Wahlkampagne”, “Die Ergebnisse der
Wahlen”, “Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage”, “Über das
Selbstbestimmungsrecht der Nationen” und andere. Den Teil Kunst und
Literatur redigierte A.M. Gorki. Die Auflage der Zeitschrift betrug
nahezu 5000 Exemplare.
Kurz vor dem ersten
Weltkrieg – im Juni 1914 – wurde die Zeitschrift von der zaristischen
Regierung verboten. Im Herbst 1917 wurde das “Prosweschtschenije” erneut
herausgegeben, es erschien nur eine Doppelnummer der Zeitschrift, in
der die Arbeiten Lenins “Werden die Bolschewiki die Staatsmacht
behaupten?” und “Zur Revision des Parteiprogramms” veröffentlicht
wurden.
P.S. Eigentlich wollte ich nicht unbedingt hier ganze Schriften
veröffentlichen. In diesem Fall erachte ich es durchaus als angebracht.
Da diese Schrift nicht all zu lang ist und einen guten Überblick über
die Grundlagen und Wesenszüge des Marxismus bietet.
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