relative stabile,
modifikationsfähige, durch eine bestimmte Klasse, Schicht, Gruppe für
relativ lange Zeit aus der Vergangenheit übernommene oder wieder belebte
Ideen, Symbole und Institutionen, die mittel- oder unmittelbar der
Durchsetzung bestimmter Klassen-, Schichten-, Gruppeninteressen dienen.
Sie wirken im individuellen wie im Klassenbewusstsein, sind Bestandteil
des gesellschaftlichen Bewusstseins überhaupt. Objektive Grundlage für
die Schaffung bestimmter Traditionen ist letztlich die gesellschaftliche
Praxis. Jede Tradition hat in der Klassengesellschaft im Gefüge der
Beziehungen des gesellschaftlichen Bewusstseins einen objektiv
bestimmten Platz, dient – bewusst oder unbewusst – der Durchsetzung und
Festigung des jeweiligen Klassen-, Schichten-, Gruppenwillens. In diesem
Prozess wirkt eine gnoseologische wie eine soziale Komponente.
Es gibt verschiedene
Ebenen und Strukturen von Tradition: kulturelle, kulturgeschichtliche,
volkskundliche, regionale, nationale und internationalistische Tradition
usw. Nationale und Internationale Traditionen bilden eine untrennbare
dialektische Einheit, wobei die internationalistischen das übergreifende
Element darstellen. Traditionen können spontan entstehen oder bewusst
geschaffen werden.
Es
gibt Traditionen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in
jeder Wissenschaft. Keine Erscheinung, Institution, kein Gedanke der
Vergangenheit kann der Gegenwart und Zukunft als Tradition dienen, wenn
sie nicht, von Zeitschranken befreit, im Gesamtzusammenhang historischen
Seins gesehen werden. Widersprüche der Vergangenheit sind nicht
durchschaubar, Traditionen nicht als solche erkennbar, wenn sie nicht
vom Standpunkt der sie untersuchenden, höheren Gesellschaftsformation
betrachtet werden.
Es ist also kein
Subjektivismus, wenn sich marxistische Traditionsbenutzung dem
„Bedürfnis“ der sozialistischen Gesellschaft anpasst. Traditionen
besitzen eine gewisse Eigengesetzlichkeit, kommen aber erst ganz zur
Entfaltung, wenn bestimmte Institutionen einer Klasse, Schicht, Gruppe
sich ihrer bemächtigen. Sie bilden gemeinsam mit Sitten, Bräuchen u. a.
die gesellschaftliche Psychologie und gehen weitgehend in die Ideologie
und die Wissenschaft ein. Andererseits wirken Ideologie und
Wissenschaften auf die Entwicklung von Traditionen ein. Während
Traditionen primär Klassencharakter tragen, sind Sitten und Bräuche
klassenindifferent, werden aber von bestimmten Klassen und Schichten in
ihrem (progressiven oder reaktionären) Interesse genutzt. Das Erbe dient
der Förderung, Pflege, Festigung der jeweils im Interesse einer
bestimmten Klasse genutzten Tradition bzw. Traditionslinie.
Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein stehen in enger Beziehung zur
Tradition, sind aber nicht identisch. Traditionen sind zählebig, nicht
durch Verbot zu beseitigen und wirken oft bedeutend länger als ihre
ursprüngliche Basis. Bei Traditionen ist die Dialektik von Form und
Inhalt zu beachten.
K. Marx verweist
darauf, dass fest tradierte Beziehungen ein unerlässliches Moment für
„gesellschaftliche Festigkeit“, ein Element von „Regel und Ordnung“,
zwingend notwendig sind, um gesellschaftliche Entwicklungen von
Zufälligkeit und Willkür zu befreien. Reaktionäre Traditionen können in
progressive Formen gekleidet werden. Andererseits können progressive
Traditionen durchaus in alte Formen gekleidet sein, wobei „alt“ nicht
mit „reaktionär“ identisch ist. Tradition und Anerkennung von Leistungen
der Vergangenheit sind zu unterscheiden.
Reaktionäre Traditionen
wirken hemmend auf die Bewusstseinsbildung und damit auf die
gesellschaftliche Entwicklung. Progressive Traditionen dagegen sind eine
Triebkraft für das gesellschaftliche Handeln. Dabei ist die
Herausbildung neuer Traditionen ein langwieriger und komplizierter
Prozess. Auch der ideologische Kampf um die Bewahrung und
schöpferische Verarbeitung der humanistischen Traditionen der
Vergangenheit (und entsprechende Ansätze im Spätkapitalismus) ist ein
wichtiges Element der geistigen Auseinandersetzung. Der
Marxismus-Leninismus wendet sich ebenso gegen jedes anarchistische
Verhältnis zu überkommenen Traditionen wie gegen deren Heiligsprechung
oder undialektische, totale, nicht über die Negation der Negation
vollzogene Übernahme. Das Verhältnis zur Tradition ist dort
schöpferisch, wo das Überlieferte in gewandelter Form selbst eine
Wandelung erfährt. Das Fortführen großer Traditionen ermöglicht die
Schaffung neuer Traditionen. Die heutige imperialistische Literatur und
Kunst ist durch eine Absage an die humanistischen Traditionen ihrer
eigenen Vergangenheit bzw. deren Verfälschung gekennzeichnet. Generell
hängt es vom historischen Niveau der erreichten gesellschaftlichen und
künstlerischen Entwicklungen ab, was aus dem großen Schatz an
Traditionen in welcher Weise aufgearbeitet wird und wo für die jeweilige
Gesellschaftsordnung die Hauptlinien der Traditionsbeziehungen verlaufen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen