|
Bildschirmfoto 2018-12-20 11:46 Uhr |
Unter
folgendem Text, steht folgende Anmerkung:
„Anmerkung der
Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien
Verfügung. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die
„mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour).
Die Texte werden auf der Seite https://publikumskonferenz.de/blog
dokumentiert.“
Und
da dieser Beitrag zur freien Verfügung steht und der inhaltlichen
Auseinandersetzung zuzustimmen ist, sei er hier wiedergegeben.
Regierungslautsprecher, voll aufgedreht
Die Tagesschau berichtet über die
Straßburger Schießereien ohne jede Distanz und stellt keine einzige
kritische Frage
Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Was ein rechter Staatsfunk ist, zeigt die
ARD-aktuell-Redaktion einmal mehr, inhaltlich und sprachlich, in
ihrem Bericht über die Straßburger Tragödie: Der (mutmaßliche)
Mörder ist tot / Die Ordnung ist wiederhergestellt / Der
Weihnachtsmarkt hat wieder geöffnet / Jetzt aber Friede auf Erden
und den Menschen ein Wohlgefallen! – Nicht die Spur kritischer
Distanz. Blankes Nachbeten der behördlichen Darstellung. Verzicht
auf Nachdenken und eigenständige Prüfung. Politischen Kontext des
Geschehens ignorierend. Journalistische Grundsätze missachtend, zu
denen auch der Respekt vor rechtsstaatlichen Prinzipien gehört. Im
vorliegenden Fall: Die grundsätzliche Pflicht zur Unschuldsvermutung
im Hinblick auf den „mutmaßlichen“ Attentäter.
Was fordert die Europäische
Menschenrechtskonvention?
„Jedermann hat solange
als unschuldig zu gelten, bis in einem allgemeinen, gesetzlich
bestimmten Verfahren rechtskräftig seine Schuld festgestellt wurde.“
(1)
Sind der Tote und der Attentäter überhaupt
identisch? Die Tagesschau stellt es nicht infrage. Wenn die Polizei
das erklärt, muss es die Tagesschau glauben? Es wird schon stimmen…
Irreführende, falsche Behördenauskünfte gibt es nämlich gar
nicht. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nicht wahr?
Also servierte die Tagesschau in ihrer
Hauptausgabe um 20 Uhr am 14. Dezember reichlich vage, der
mutmaßliche Attentäter sei „getötet worden“:
„Nach dem Tod des
mutmaßlichen Attentäters von Straßburg fahnden die Ermittler nach
möglichen Komplizen. Der Franzose mit algerischen Wurzeln war
gestern abend bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet
worden. Der 29jährige wurde im Stadtteil Neudorf aufgespürt, in der
Rue du Lazaret. …“ (2)
Im darauf folgenden Video, einem Zusammenschnitt
aus Nachrichtenfilm und Reporterbericht, wird weiter mitgeteilt,
Präsident Macron sei zu einem Trauerzeremoniell nach Straßburg
gekommen und habe den französischen und deutschen Polizisten
gedankt.
Wie schön von dem Mann. Die Tagesschau vergisst auch
nicht, einen ganz entscheidenden Satz anzufügen, den Macron
allerdings nicht in Straßburg, sondern woanders geäußert hatte. In
Brüssel, beim EU-Gipfel:
„Unser Land muss zu Ruhe
und Ordnung zurückkehren.“ (ebd.)
Die unausgesprochene, aber deutliche Botschaft an
die revoltierenden „Gelbwesten“:
Kuscht endlich, oder es
geht euch genauso wie dem Kerl in Straßburg.
Davon durften sich
auch – vermittels Tagesschau – all jene deutschen Mitbürger
angesprochen fühlen, die in den vergangenen Wochen zu der
Überzeugung gelangt waren, hierzulande sei es ebenfalls längst an
der Zeit, die gelben Westen überzustreifen. Doch dazu später noch
ein paar Bemerkungen.
Die Nachricht in der
Tagesschau-Hauptausgabe hatte den gleichen Tenor und Stil wie schon
die Internet-Version auf tagesschau.de. Dort hieß es:
„Der Attentäter hatte
am Dienstagabend das Feuer in der Straßburger Innenstadt eröffnet
und Menschen auch mit einem Messer angegriffen. Zeugen haben ihn nach
Angaben des Chefermittlers Rémy Heitz „Allahu Akbar“ rufen
hören. Anschließend war er auf der Flucht vor der Polizei von
Soldaten verletzt worden und zunächst spurlos verschwunden.“ (3)
Das wirkt sachlich und stimmig. Es fehlt nur der
Hinweis, dass Zeugenaussagen, weil immer subjektiv gefärbt, mit
Vorsicht zu genießen sind, wie jeder Kriminologe und jeder
Strafrechtler weiß. Kann man wirklich einen arabischen Ausruf
wahrnehmen und verstehen, während der Knall von Pistolenschüssen
aufs Trommelfell schlägt? Aber weiter im Text auf tagesschau.de:
„Am Donnerstagabend
hatten Spezialeinheiten den 29-Jährigen mutmaßlichen Attentäter
Chérif Chekatt im Straßburger Stadtteil Neudorf erschossen. Nach
Angaben von Innenminister Christophe Castaner hatte sich Chekatt
seiner Festnahme widersetzt und das Feuer auf die Polizisten
eröffnet.“ (ebd.)
Der Tote ist nicht erwiesenermaßen identisch mit
dem Attentäter. Und noch eine Unregelmäßigkeit fällt auf: In der
Internet-Version heißt es, „Spezialeinheiten“ hätten den Mann
erschossen. In den TV-Berichten hingegen, drei einfache
Streifenpolizisten hätten ihn aufgespürt und getötet. Ja was denn
nun?
Den Widerspruch löst die Tagesschau nicht auf.
Und erst recht interessiert sich die Redaktion nicht für die äußerst
fragwürdige Darstellung der französischen Behörden: Chérif
Chekatt, der vermeintliche Attentäter, sei vor einem geschlossenen
Hauseingang in der Rue Lazaret gestellt worden. Die Polizeibeamten
hätten ihn angesprochen und festnehmen wollen, er aber habe sofort
geschossen. Die Polizisten hätten zurückgeschossen und ihn getötet.
Mit Verlaub, diese Darstellung weckt heftige
Zweifel. Genauer: den Verdacht, dass da kurzer Prozess gemacht wurde,
eine extralegale Hinrichtung. Weitere Fragen stellen sich uns. Nicht
aber unseren Qualitätsjournalisten.
Der Mann war schon am Tag zuvor auf dem
Weihnachtsmarkt angeschossen worden. Wie schwerwiegend und hinderlich
war diese Verletzung? Beeinträchtigte sie Reaktions- und
Handlungsfähigkeit des Flüchtigen? Wie wahrscheinlich ist es, dass
ein von (mindestens) drei Polizisten gestellter, verletzter Mann /
nach seiner Waffe greift / und schießt / und nichts trifft / obwohl
seine Ziele direkt vor ihm stehen?
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Polizisten ihn
zunächst mal schießen lassen und erst danach zurückschießen?
Wie
groß war die Distanz zwischen Flüchtigem und Polizisten? Wie viele
(Fehl-)Schüsse hat er abgegeben? Wo sind deren Projektile in der
geschlossenen Bebauung der Rue Lazaret eingeschlagen? Wieviel
Munition hatte der Flüchtige überhaupt noch bei sich?
Wie viele Schüsse haben die Polizisten
abgefeuert? Wie viele haben den Flüchtigen getroffen, und wo? War es
zwingend, den Mann zu töten? War es ausgeschlossen, ihn lediglich zu
„stellen“, auf Verstärkung zu warten und darauf, dass er sich
ergibt? War ausgeschlossen, ihn per Schusswaffengebrauch zwar außer
Gefecht zu setzen, aber sein Leben zu schonen?
Wurde der Ort des Geschehens kriminaltechnisch
untersucht? Spuren, Ergebnisse? Bestätigen sie die offizielle
Version des Geschehens?
Und eine ironische Frage: Haben die Polizisten
ganz sicher nicht gehört, dass der Mann noch „Allahu akbar!“
schrie, ehe er sich endlich erschießen ließ?
Ist den Qualitätsjournalisten der ARD-aktuell
tatsächlich nicht aufgefallen, wie verdächtig glatt und rund sich
der ganze Bericht präsentiert?
Da die Chose in Frankreich spielt, sei die Frage
erlaubt: Wirkte die Story auf die ARD-aktuell-Redaktion nicht wie ein
déjà-vu, kam kein „Aha-Gefühl“ auf? Ist den werten Kollegen
nicht die vollkommene Übereinstimmung mit dem Attentat auf dem
Berliner Weihnachtsmarkt aufgefallen? Oder, falls doch: Hielten sie
es für unnötig, auf die Parallelität hinzuweisen? In Straßburg
wie in Berlin standen die mutmaßlichen Täter schon zuvor unter
enger Überwachung von Staatsschutz und Polizei. Beide sollten –
„Gefahr im Verzug“ – kurz vor den Attentaten festgenommen
werden. Beide konnten sich aber dünne machen, trotz der engen
Überwachung. Beide hatten ein Netz von Komplizen, wahrscheinlich
auch weit in die Geheimdienste hinein. Beide wurden kurz nach der Tat
gesehen, verfolgt und schließlich „auf der Flucht erschossen“.
Und es können nun beide nicht mehr aussagen. Über
sich, die Motive ihrer Tat, ihre Hintermänner. Wie praktisch, nicht?
Die Umstände des Berliner Zwillingsfalles sind
bis heute nicht aufgeklärt, sind immer noch Gegenstand von
parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Die Tagesschau hielt es
nicht für nötig, auf die frappierende Gleichheit der Ereignisse
aufmerksam zu machen. Als ob diese Qualitätsjournalisten noch nie
den Begriff „Tiefer Staat“ gehört hätten.
Ja, wenn man selbst zu dicht dran ist an der
Staatsmacht, fast Teil derselben, dann sieht man eben nicht mehr, was
dahinter steckt, hinter soviel obszöner Zufälligkeit.
Ein Querverweis auf die Gelbwesten war ebenfalls
angebracht. Der Tagesschau erschien das allerdings nicht so. Kam das
Attentat in Straßburg dem französischen Präsidenten Macron nicht
wie gerufen? Wirkt es nicht „wie bestellt“? Die Gelbwesten hatten
Macron und seine antisoziale Politik bereits an den Rand des
Scheiterns gebracht. Jetzt kann er aufatmen; nach Straßburg herrscht
landesweit Angst. Der Ruf nach dem Starken Staat erschallte, und
schon ist die geballte Staatsmacht zur Stelle.
Die Gelbwesten-Akteure wissen jetzt, was Sache
ist. Sie wollen „trotzdem“ weiter protestieren.
(4) Mal sehen,
wie lange sie noch durchhalten, bis ihr Protest erstickt. Erste
Anzeichen für die Schwächung des Widerstands gab es schon:
„Sie waren nicht mehr
ganz so zahlreich wie am vergangenen Samstag – und es ging auch
nicht mehr so hoch her bei den „Gelbwesten“. An diesem fünften
Protest-Samstag in Folge zählten die Sicherheitskräfte gegen Mittag
etwa 3000 Demonstranten in Paris. Die meisten protestierten
friedlich. (5)
Was Wunder, bei 69 000 landesweit mobilisierten
Polizisten. Allein in Paris 8 000 Mann, mit 14 Panzerfahrzeugen der
Gendarmerie ausgestattet…(6)
Auf Verständnis für sich und ihre grundlegenden
sozialen Anliegen dürfen die Gelbwesten ohnehin nicht hoffen.
Jedenfalls nicht auf das Verständnis der Staats- und der
Konzernmedien. Schon gar nicht der deutschen.
Wie dieses Verständnis aussehen könnte, zeigte
Pamela Anderson am 3. Dezember in einem Offenen Brief an Präsident
Macron:
„… was ist die Gewalt
dieser Menschen und was sind brennende Luxusautos verglichen mit der
strukturellen Gewalt der französischen – und globalen – Elite? …
Sie kommt von den zunehmenden Spannungen zwischen der städtischen
Elite und der armen Landbevölkerung, zwischen den Politikern und den
99 Prozent, die genug von Ungleichheit haben – nicht nur in
Frankreich, sondern auch auf der ganzen Welt.“ (7)
Pamela Anderson war bisher nur als sexy Model
bekannt. Sie hat ersichtlich mehr vorzuweisen als einen Prachtbusen:
Nachdenklichkeit, analytische Kritikfähigkeit. Und deutlich mehr
Stil als Chefredakteur Dr. Gniffkes Qualitätsjournalisten.
Quellen:
Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist.
1975 – 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des
NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie
Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang
1941, Journalist. 1975 – 1996 im NDR, zunächst in der
ARD-Tagesschau, nach 1991 in der NDR-Hauptabteilung Kultur. Danach
Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni Taipeh.
Beide Autoren sind Mitglieder des Beirates des
Deutschen Freidenker-Verbandes.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung.
Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale
Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte
werden auf der Seite https://publikumskonferenz.de/blog
dokumentiert.
Erstveröffentlichung am 16.12.2018 auf
publikumskonferenz.de:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen