Zitat:

Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein. - Bertold Brecht, „Leben des Galilei“

Zitat:

Bedrohlich ist das Volk für die Herrschenden, wenn es ohne Furcht ist.“ -Tacitus (römischer Historiker)

Zitat:

Die Furcht vor Übervölkerung tritt stets in Perioden auf, in denen der bestehende Sozialzustand im Zerfall begriffen ist. August Bebel

Dienstag, 4. August 2020

Proteste am 01.08.2020 in Berlin

Einen Text habe ich erhalten, es geht um die Demonstration am 1.8. in Berlin, je nachdem aus welcher Richtung die Berichterstattung, wurde von 20 Tausend bis 1,3 Millionen Teilnehmern berichtet. Da ich selbst nicht dagewesen, aber einiges gelesen, wird die Zahl der Teilnehmer sicher irgendwo dazwischen zu finden sein. Die Berichterstattung ist kontrovers und vor allem von der sogenannten öffentlichen Seite, also von den Hauptstrommedien, wird in der Regel verurteilt und verunglimpft. Dazu wird zu einfachen Schemen gegriffen und dem heute in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Irrationalismus Wasser auf die Mühlen gegeben. Das dieses allerdings keine Einseitige Angelegenheit ist, kann folgendem sehr interessanten Beitrag von Klaus Linder entnommen werden:

"Sowohl "Demonstranten" als auch "Gegendemonstranten" am 1.8. in Berlin bestätigen, dass der bürgerliche Irrationalismus nicht "freischwebend" bleiben kann, sondern zur Form der Religion drängt - mit allen Merkmalen des Fanatismus, des Messianismus, der gnadenlosen Denunziation der Ungläubigen."

Georg Lukács saß dem Nietzsche auf, dessen antichristliche Verlautbarungen er für bare Münze nahm, indem er meinte, die Nazi-Propaganda als einen "a-religiösen Irrationalismus" analysieren zu können. Da irrte er gewaltig, er irrte sogar über die tatsächliche Rolle der Kirchen im „Dritten Reich“.
Am 1. 8. standen sich zwei Lager gegenüber, die man nur als Einheit eines Spaltungsprozesses innerhalb der in die Krise stürzenden kleinbürgerlichen Schichten verstehen kann. Die Frage, ob man noch eine der "Bewegungen" gegen die andere unterstützen solle, ist hier falsch.
Beide Abteilungen bringen nur eins zum Ausdruck: die Negation einer wissenschaftlichen Weltanschauung; über diesem Vakuum saugen sie sich gegenseitig an wie Magdeburger Halbkugeln.

Beide halten sich ihren eigenen Vorstellungen nach für Opposition gegen die herrschende Tendenz der deutschen Gesellschaft. Das muss man den "Omas gegen Rechts" ebenso zugestehen wie den im gleichen Sinne engagierten Gewerkschaftern auf der einen Seite. "Opposition" glaubten sich natürlich auch jene, die auf der anderen Seite dem religiösen "Weckruf" im Glauben folgten, sie könnten das Motto eines Nazi-Propagandastreifens - "Tag der Freiheit" - auf den Straßen Großberlins ("17. Juni" war der passende Straßenname) auch nur eine Minute aus der Fantasie in die „demokratische“ Wirklichkeit holen.

Auf ihrer Seite der Spaltung bringt es nicht weiter, die Sache mit religionssoziologischen Differenzierungen analytisch meistern zu wollen. Ob die dort vertretenen zahllosen esoterischen Spinnereien, die das Kleinbürgertum im Abstieg begleiten ("Meditieren für das Grundgesetz"), die "zen-buddhistischen" und "lamaistischen" Orakelsprüche mit denen sie ihre Reden spickten, ob der politisch frustrierte, zum Mißerfolg aufgrund eigenen Widerspruchs verdammte Parteigründer Dr. Schiffmann mit der versammelten Gemeinde "das Vaterunser" betete, oder ob sie sich einfach mit wachsender Inbrunst dem Personenkult für ihre jeweiligen Versammlungsleitungen hingeben - zu Recht machen sie selber da keine konfessionellen Unterschiede mehr. Es geht um eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, die Religion als solche als "Antwort" auf ihre Lage. Selbst die nur vom Hörensagen im Innern der Menschenmenge weitergereichte, der Evidenz deutlich widersprechende Behauptung, sie seien "1,3 Millionen" gewesen, wurde schon am nächsten Tag zum ungeprüft verfochtenen Glaubenssatz, zum Gründungsmythos des „Tag 1“ einer „neuen Zeitrechnung“. Womit wir innerhalb kurzer Zeit bei der nächsten chiliastischen Variante seit den Klimaapokalyptikern wären.

Beide Abteilungen hielten sich für gesellschaftliche Opposition und opponierten doch nur gegeneinander. Beide, als gesellschaftlich ohnmächtigste Schichten des Kleinbürgertums, deren Grunderfahrung es ist, dass sie sich tatsächlich nur von Gnaden einer anderen Klasse erhalten können, bringen mit ihrem Glauben nichts zum Ausdruck als die herrschende Tendenz selber.
Man könnte ihren Geisteszustand, zur ersten Orientierung, als konterrevolutionären Messianismus bezeichnen. Das Bild erweitert sich nicht, sondern nur die Zahl ihrer inneren Spaltungslinien wird erhöht, wenn wir die Teile jener Schichten noch hinzunehmen, die bei BLM, FFF, XR mittun und was da sonst noch kommen mag. Symbole wie „Hygieneregeln“ reichen nicht aus, um echte Gegensätze zu begründen. Da nicht die soziale Basis sondern nur die Zahl der inneren Spaltungen größer wird, sind Begriffe wie "Protest" und "Aktion" bereits Elemente des religiösen Messianismus, dem keine aktive Bewegung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht.
Durch die Aufrechterhaltung ihrer Spaltungen (gegen die Arbeiterbewegung) sind sie Speerspitzen der Finanzbourgeoisie. Sie waren es zu Zeiten der längst vergangenen "Prosperität", als das Warenangebot noch weitgehend in ihrer Reichweite schien, sie sind es jetzt noch, da die allgemeine Krise sie auf den Grund spült. Sie sind zunehmend abgebrochene Speerspitzen; das sollte auch vor der Illusion warnen, man könne sie mit ihrer Ideologie derzeit "abholen wo sie stehen". Sie stehen nicht, sondern sie fallen, und zwar schnell.

Wenn sie aufeinandertrafen, taten sie am 1.8. nur eines: sich ohne jede Dialogmöglichkeit gegenseitig Stirn an Stirn zuschreien, sie seien Nazis, Faschisten (der jeweils andere als der „wahre Nazi“; drunter macht man es im imperialistischen Deutschland nicht mehr). Die Maskenträger mit den geschwollenen Adern einer ANTI-Ideologie; die Maskenverweigerer verdeckten ihre ebenso geschwollenen Adern unter der penetranten Schleimigkeit einer "positiven" Liebesreligion, waren aber durch die kindische Fixierung auf das nebensächliche Maskensymbol gleichwohl ebenfalls zur ANTI-Ideologie verurteilt.

Sie sagten beide dasselbe. Hier kommen wir zu einer zutiefst chauvinistischen Besonderheit der deutschen Ideologie (natürlich nicht derer, die die wissenschaftliche Weltanschauung der DDR noch nicht aufgegeben haben): Die Herrschenden haben "Antifaschismus" zu einer Religion verkehrt, genauer zu einer deutschen Missionierungsreligion, die jedem Materialismus, jeder Rationalität ins Gesicht schlägt und vollständig in die deutsche EU-Ideologie einging. Die "Omas gegen Rechts", die, bei wahrscheinlich einstmals lautersten Absichten, für jede Pro-EU-Jubelveranstaltung zu instrumentalisieren sind, bringen diese Seite der kleinbürgerlichen Bewusstseinsspaltung gut zum Ausdruck. Die "Tag-der-Freiheit"-Religiösen stellen nichts davon in Frage, den EU-Chauvinismus nicht, von Nuancen abgesehen, und die gemeinsame Grundlage, den Antikommunismus, absolut nicht, sie forcieren ihn sogar, indem sie den Endsieg des Altreichs über die DDR in jedem Redebeitrag beschwören. Was sie in ihrem inneren Widerspruch zum Ausdruck bringen, ist tatsächlich das größte ideologische Mobilisierungsproblem der deutsch-chauvinistischen EU-Ideologie: sie ist eine reine Anti-Ideologie (angeblich: antifaschistisch, antinational, antirassistisch, antiautoritär, wirklich: antisozialistisch, antikommunistisch, antisouveränistisch). Die Krise verschärft aber noch jede kleinste Ungleichzeitigkeit bei der kapitalistischen Aufteilung der Welt. Mit einem Sammelsurium von "Anti" wird der deutsche Imperialismus seine Hegemonie auch nach innen, ins Hinterland, nicht mehr behaupten. Die "Tag der Freiheit"-Kleinbürger haben schneller reagiert als ihr Gegenpart: eine positive Religion muss wieder her, aus allen verwesenden Fetzen zusammengeflickt, die sich dazu noch auffinden lassen.

Über die Methode, die der Wahnsinn hat, eine Anekdote von gestern. Ich finde, über den verordneten „Krampf gegen rächts“ habe ich mich in letzter Zeit genug geäußert. Schauen wir also diesmal auf die Seite der „Tag der Freiheit“-Gemeinde, um auch hier zu sehen, welcher Debilität der zur neudeutschen Paltungsreligion umfunktionierte „Antifaschismus“ zutreibt.

Seit gestern kursiert aus „Tag der Freiheit“-Kreisen ein Video, das den Polizisten bei der Arbeit zeigt, der der Menge die Auflösung der Versammlung verlas. Da er den Veranstaltern, die ihn die ganze Zeit durch den Mund des fanatischen Antikommunisten Stephan Bergmann („Merkel will den Kommunismus wieder einführen“) persönlich provozieren wollten, am Ende das Offensichtliche sagte, dass er dort seinen Job machte, also das tat, wozu er nun mal in diesem Einsatz beauftragt war, haben „Erweckte“ das Video mit einem Kommentar versehen, in dem der Berliner Polizist mit dem faschistischen Massenmörder Adolf Eichmann auf eine Stufe gestellt wurde, weil der, wie man aus Arendts fragwürdiger „Banalität des Bösen“ weiß, ja auch „seine Pflicht getan“ zu haben reklamierte. Ich fragte nun bei den Urhebern dieses erbärmlichen, durch keine vorgeschobene Dummbatzigkeit mehr zu entschuldigenden Vergleichs, wieso sie eigentlich, wenn sie im Sinne des Anliegens der Vorabdiffamierung als „rechtsoffen“ oder Eindeutigeres keinen Raum geben möchten, dann ausgerechnet den Titel eines faschistischen Propagandafilms von 1935, nämlich „Tag der Freiheit“ von Leni Riefenstahl, als Motto ihrer Veranstaltung wählten. Sofort kam von der Glaubensstreiterin zurück: „Du gehörst also auch zu den Systemlinken die uns zu Nazis und Antisemiten erklären“. Ich hatte zwar nichts davon im Sinn, sondern fragte mich einfach, wie man so unausstaunbar dumm sein kann (falls nicht direkt ein Geheimdienst bei dem Motto die Feder führte), aber die Anekdote spricht Bände: Die bloße Erwähnung, dass sie hinter einem Riefenstahl-Propaganda-Motto herlaufen, führt zur persönlichen Diffamierung des Gegenübers durch einen Popanz, den man gemeinsam mit dem Gegner aufbaute, im gleichen Atemzug wird ein armer Polizeibeamter mit dem Auschwitzmörder Eichmann auf eine Stufe gestellt. Hier ist hoffentlich bald der Endpunkt der „Antifaschismus-Religion“ des konterrevolutionären Messianismus erreicht, denn sie beinhaltet die Zerstörung jeder Aufklärung und Gesprächsmöglichkeit. Bleibt noch zu erwähnen, dass der Eichmannbezug inspiriert war durch das seinerseits schon religiöse Motto der konsumistischen Kleinbürgerideologie, das die amtliche „Totalitarismusideologin“ Hanna Arendt lieferte: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen!“ (derzeit übrigens Titel einer von der Merkel-Regierung geförderten Ausstellung in Berlin)

Man sollte diese Schichten in der Verzweiflung ihrer tragischen Spaltung be-, aber nicht VER-urteilen. Aber unterstützen dürfen Freidenker das NICHT, sofern sie ihre Berliner Erklärung noch ernst nehmen. Man sollte sich klar sein: Sie werden gefährlich, von Monat zu Monat gefährlicher, da von nicht spaltender Ratio oder, wie die alten Griechen sagten: vom Logos, immer schwerer zu erreichen.
Umso mehr, als sie mit dem, wozu man sie unablässig treibt, keinen Bestand haben vor dem, was sie gemäß Klassenauftrag von oben seit Jahrzehnten negieren: Der wissenschaftlichen Weltanschauung und der Solidarität der Arbeiterklasse.

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