Heute erhielt ich einen Text von Rainer Thiel, welchen ich hier gern
veröffentliche:
Sonntag
Abend nach der Wahl
Wenn ich einen
Parteiapparat gehabt und meine Ansichten über solidarische, friedliche
Gesellschaft hätte erläutern können, dann hätte ich 99 Prozent der Stimmen
erhalten. Ich wäre im Konsens mit Occupy: Diese Freunde haben gesagt: „Wir sind
99 Prozent!“ Für das Amt der Regierungschefin hätte ich Sahra Wagenknecht in
Erwägung gezogen.
Was veranlasst mich zu
dieser Frechheit? Ich habe allerhand erlebt: 1. Meine Eltern haben mir das
Rückgrat nicht verbogen, sie haben mir die Neugier nicht geraubt. 2. Im Spiel
mit anderen Kindern habe ich Freundschaft erfahren. 3. Als Helfer meines Vaters
habe ich organisieren gelernt. 4. Im Krieg habe ich Nazis und Bomben erlebt. 5.
Im Gymnasium erfuhr ich von Mathematik und Geschichte, vor allem von deutscher
und europäischer Kultur. 6. Durch Rausschmisse aus der SED begünstigt habe ich
mit Händen zu produzieren gelernt.
Alles zusammen reichte mir,
politisch aktiv zu werden.
Es kam dazu: Die
Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik, ihre Arbeiter, ihre Bauern
und ihre Mittelständler hatten mir ein langes Studium ermöglicht. Ich achte
alle, die anpacken können. Von ihnen habe ich gelernt.
Nur für Regierungsposten
bin ich zu bescheiden. Schon eine Krawatte wäre mir zu viel.
Liebe Freunde, Spaß muss
sein, und wenn es nach der Wahl ist. Schon der Wahlkampf war ja Kabarett. Keine
einzige Partei hat die Bürger orientiert, eine solidarische, friedliche Welt
einzurichten. Aber die Kabaretts haben funktioniert. Sie haben viele
Bürger an die Wahlurne gelockt.
Und im Osten Deutschlands,
wo die Linkspartei verwurzelt und pragmatisch ist, haben mehr Leute die
„Alternative für Deutschland“ gewählt als im Westen.
Werden wir nun einer
solidarischen, friedlichen Welt näher kommen?
In den letzten Wochen kamen
viele mails zu mir, da wurde gesagt: Mit den Parteien werden wir nicht mal
Demokratie und Rechtsstaat bewahren. Deshalb nehme ich mir in den nächsten
Wochen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschlands und beginne zu
sondieren: Wo ist die demokratische Substanz? Zum Beispiel in Artikel Eins. Die
Substanz müssen wir bewahren. Und wo wird diese Substanz unterlaufen? Alle
Staatsgewalt geht vom Volke aus! Jawohl, Artikel 20, so muss es sein. Doch wo
geht die Staatsgewalt hin? Zu den Parteien? Zu den Parteien, die seit 64 Jahren
herrschen? Und Artikel 14: Das Eigentum wird gewährleistet. Doch was ist
Eigentum? Alles, was der kleine Bürger hat, zu Hause und auf seinem Sparkonto.
Auch was der Mittelständler hat. Doch alles, was die großen Banken spekulieren?
Ist das auch Eigentum? Und was die Milliardäre pflegen? Gehört das auch zum
Eigentum, das zu gewährleisten ist?
Und was ist mit dem Platz
im Obdachlosenheim?
Liebe Freunde, lasst uns
diese Fragen stellen. Davon kann uns auch kein mittlerer Beamter des Berliner
Senats abhalten. Lasst uns diese Fragen stellen, deutlich, solidarisch, in die
Zukunft denkend, und lauter als bisher.
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