Nation: Struktur- und
Entwicklungsform der Gesellschaft in der kapitalistischen und
kommunistischen Gesellschaftsformation. Die Nation entsteht gesetzmäßig
mit der Herausbildung der ökonomischen Gesellschaftsformation des
Kapitalismus als Produkt ökonomischer, hierauf beruhend auch
sozialpolitischer, kultureller und ideologischer Entwicklungsprozesse
und historischer Klassenkämpfe zwischen den von der progressiven
Bourgeoisie geführten Volksmassen und dem Feudaladel. Die
Funktion der Nation
im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess besteht darin, durch den
Zusammenschluss großer Menschengruppen mittels nationaler Beziehungen
eine Form des Zusammenwirkens der Menschen zu schaffen, in deren Rahmen
sich Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Kultur, Wissenschaft
und Technik in wachsendem Maße entfalten können. Die Nation ist ein
wichtiges Element der Struktur der kapitalistischen
Gesellschaftsformation; diese entwickelt sich konkret-historisch immer
in der Form einer bestimmten kapitalistischen Nation. Nach dem Sieg der
sozialistischen Revolution bleibt die Nation ein wichtiges Element der
Struktur der kommunistischen Gesellschaftsformation: Die sozialistische
Gesellschaft als erste Phase dieser Gesellschaftsformation entwickelt
sich konkret-historisch immer in der Form einer bestimmten
sozialistischen Nation. Als Entwicklungsform der Gesellschaft ist die
Nation eine bedeutende geschichtliche Kraft, die den gesellschaftlichen
Fortschritt beschleunigt.
Ihr Inhalt wird vor allem
durch die ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Prozesse
sowie durch die Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Gesellschaftsformation
bestimmt. Zugleich gehen in den Inhalt der Nation auch die ethnischen
Eigenschaften, Merkmale und Bindungen der Menschen (Sprache, Bindung an
das heimatliche Territorium, Besonderheiten der Lebensweise und Kultur,
Sitten, Gebräuche, Traditionen, Bewusstsein der Zusammengehörigkeit) ein
und verbinden sich mit dem sozialen Inhalt der Nation. Die soziale
Seite ist für den Inhalt der Nation bestimmend, weil hierdurch ihr
sozialhistorischer Typ, ihr Klassencharakter und ihre
Entwicklungsrichtung festgelegt sind. Die Nation wird durch große
Menschengruppen, durch die Klassen und Schichten einer Gesellschaft
gebildet, die untereinander nationale Beziehungen entwickeln. Das sind
ökonomische, sozialpolitische, ideologische Bindungen, die sich mit der
Entwicklung der kapitalistischen Produktions- und Austauschweise, mit
der Entstehung des inneren Marktes auf einem bestimmten Territorium, in
einem bestimmten Sprachgebiet und kulturellen Milieu unter einer
größeren Bevölkerung herausbilden, mit den ethischen Bindungen
verschmelzen und diese Bevölkerung zu einer sozialen Einheit, zu einer
nationalen Gemeinschaft, integrieren.
Die Interessen der Bourgeoisie, der Klassenkampf
zwischen Bourgeoisie und Feudaladel, später zwischen Proletariat und
Bourgeoisie, üben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der
nationalen Beziehungen und der Nation aus. Die kapitalistische Nation
kann nur bedingt als Gemeinschaft betrachtet werden, weil sie durch eine
zunehmende Klassendifferenzierung, durch Klassenantagonismus und durch
einen sich verschärfenden Klassenkampf charakterisiert ist. In diesem
Sinne spricht Lenin von zwei Nationen, die in jeder bürgerlichen Nation
vorhanden sind. (Lenin, Bd. 20, S. 17) Die gemeinschaftsbildenden Faktoren
im Entwicklungsprozess der Nation sind vor allem die Gemeinsamkeit des
Wirtschaftslebens, eine relativ geschlossenes Territorium als
Siedlungsgebiet, die Gemeinsamkeit oder Verwandtschaft der Sprache,
Kultur, der Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten. Diese sozialen und
ethischen Faktoren gewannen ihre gemeinschaftsbildende Kraft erst auf
der Grundlage der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise,
obwohl sie selbst sich früher herausgebildet hatten. Auch der Staat
wurde durch seine zentralisierende Rolle zu einem Faktor, der die
Entstehung und Konsolidierung der Nation förderte und entscheidend
beeinflusste. Die Nation als eine gesetzmäßig entstandene Struktur- und
Entwicklungsform der Gesellschaft ist durch folgende allgemeine Kennzeichen
charakterisiert: durch den historischen Charakter ihrer Entstehung und
Entwickelung zusammen mit der kapitalistischen oder der kommunistischen
Gesellschaftsformation, durch ihre ökonomische Grundlage, durch die
Sprache als wichtigstes Mittel des Verkehrs und die das Territorium, auf
welchem der Zusammenschluss der nationalen Gemeinschaft und in der
Regel die Errichtung eines Nationalstaates erfolgt.
Die Entstehung und Entwicklung der Nation ist ein
komplizierter sozialer Prozess, der in den einzelnen Ländern sehr
Unterschiedlich verlaufen kann. In Europa haben sich die ethnischen
Grundlagen der späteren Nationen bereits in der Feudalgesellschaft
herausgebildet. Hier entstanden die Nationalitäten, aus denen später, in
Verbindung mit dem Königtum und auf der ökonomischen Grundlagen der
kapitalistischen Produktionsweise, die modernen Nationen hervorgingen.
Die Nationen unterscheiden sich voneinander durch zwei
Gruppen von gesellschaftlichen Erscheinungen: 1. durch Aspekte der
sozialökonomischen und kulturellen Entwicklung, wie Niveau und
Besonderheiten der Ökonomie, Eigenarten der Sozialstruktur, der
politischen Ordnung und des geistigen Lebens, und 2. durch spezifisch
nationale Merkmale, wie eigentümliche Züge der Kultur, der Lebensweise,
der Sitten, Gebräuche und Traditionen wie auch der Sozialpsyche.
Während die erste Gruppe dieser unterscheidenden
gesellschaftlichen Erscheinungen einen Prozess der Annäherung und
Internationalisierung im Rahmen der jeweiligen ökonomischen
Gesellschaftsformation unterliegt, bewahrt die zweite eine große
Beständigkeit, weil es sich hierbei um die ethnischen Eigenschaften und
Züge der Nation handelt.
Im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess haben sich zwei grundlegende Typen
von Nationen herausgebildet: die kapitalistische und die sozialistische
Nation. Die kapitalistische Nation ist eine Entwicklungsform der
kapitalistischen Gesellschaft. Ihre ökonomische Grundlage ist die
kapitalistische Produktionsweise, daher ist sie in antagonistische
Klassen gespalten und wird durch Klassenkämpfe und soziale Konflikte
geprägt. Ihre führende Kraft ist die Bourgeoisie, und das Schicksal der
Nation ist untrennbar mit der Entwicklung des Kapitalismus und der
herrschenden Bourgeoisie verbunden. Solange sich der Kapitalismus in
seiner Aufstiegsphase befindet, kann er auch der Nation eine
Entwicklungsperspektive bieten, und die Bourgeoisie kann als
Repräsentant der Nation auftreten, weil ihre Klasseninteressen
weitgehend mit den nationalen Interessen übereinstimmen. Im Stadium des
Niedergangs des Kapitalismus, im Imperialismus, entsteht jedoch ein
immer tiefer werdender Konflikt zwischen den Interessen der Nation und
denen der herrschenden Monopolkapitalisten, weil der Imperialismus einen
großen Teil der Produktivkräfte in Destruktivkräfte verwandelt und
durch seine Kriegspolitik und seine wachsende Tendenz zur Reaktion nicht
nur zu einem Hemmnis des weiteren Fortschritts der Nation, sondern auch
zu einer Bedrohung ihrer Existenz wird. Die kapitalistische
Produktionsweise war lange Zeit ökonomische Grundlage und Triebkraft für
die Entwicklung der kapitalistischen Nation, im Imperialismus aber
treibt sie selbst zu deren Auflösung und schafft die materiellen
Bedingungen für ihre Umwandlung in die sozialistische Nation. Die
Produktivkräfte des Kapitalismus wachsen über den nationalen Rahmen
hinaus, sie nehmen internationalen Charakter an und untergraben damit
die ökonomische Grundlagen der kapitalistischen Nation. Der Kapitalismus bringt zwei Tendenzen
in der Entwicklung der Nation hervor, die in ihrer Einheit ein
allgemeines Gesetz dieser Gesellschaftsformation sind: 1. die Tendenz
zum Erwachen des nationalen Lebens, zum Kampf gegen Unterdrückung, zur
Schaffung von Nationalstaaten; 2. die Tendenz zur Entwicklung der
Beziehungen zwischen den Nationen, zur Herausbildung der internationalen
Einheit des Kapitals und des gesamten wirtschaftlichen Lebens, zur
Internationalisierung der Produktivkräfte, der sozialpolitischen
Erfahrungen der Völker, der Wissenschaft, Technik und der gesamten
Kultur.
Die Internationalisierung des gesellschaftlichen
Lebens führt zur Annäherung der Nationen und zur Beschleunigung ihrer
Entwicklung. Daher ist sie ihrem Wesen nach ein progressiver Prozess. Da
dieser jedoch den Klasseninteressen des Monopolkapitals untergeordnet
ist, erfolgt er in antagonistischer Form. Er ist mit der reaktionären
Politik der gewaltsamen Angliederung, Unterwerfung und Ausbeutung
schwächerer Nationen verbunden. Im Zuge dieser Politik schafft das
internationale Monopolkapital supranationale oder transnationale
Vereinigungen mit dem Ziel, die kapitalistische Nation rationeller
auszubeuten. Selbst hochentwickelte imperialistische Länder geraten
dadurch in ökonomische und politische Abhängigkeit von noch stärkeren
imperialistischen Konkurrenten und vom internationalen Finanzkapital.
Die Ideologie dieser Politik ist der Nationalismus und der
Kosmopolitismus.
Die weitere Entwicklung der Nation
ist untrennbar mit dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse um die
Beseitigung des Imperialismus und die Errichtung des Sozialismus
verbunden. Die Arbeiterklasse vertritt die wahren Interessen der Nation.
Sie verbindet ihre soziale Aufgabe, die Befreiung der Werktätigen von
kapitalistischer Ausbeutung und Klassenunterdrückung, mit der nationalen
Aufgabe, die Nation von der Bedrohung durch den Imperialismus zu
befreien. Indem sich die Arbeiterklasse als die entschiedenste
Vorkämpferin der nationalen Interessen bewährt, sammelt sie alle
fortschrittlichen nationalen Kräfte um sich und führt die Nation auf den
Weg des gesellschaftlichen Fortschritts. Durch die sozialistische
Revolution und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gestaltet sie
die Existenzgrundlage der Nation um, gibt ihr einen qualitativ höheren
Typ der nationalen Gemeinschaft, die sozialistische Nation. Bei dieser
Umgestaltung bleibt die ethnische Grundlage der Nation im wesentlichen
erhalten (Sprache, Beziehung zum Territorium, spezifische Besonderheiten
der Kultur und der Sozialpsyche, Sitten, Gebräuche,
Lebensgewohnheiten), während sich die soziale Natur der Nation
grundlegend verändert (ökonomische und politische Beziehungen,
Sozialstruktur, Inhalt der Kultur und Ideologie). Die sozialistische
Nation beruht auf der sozialistischen Produktionsweise. Sie kennt keine
Klassenantagonismen, sondern ist durch eine wachsende
politisch-moralische Einheit des Volkes gekennzeichnet. Deshalb ist sie
auch wesentlich stabiler als die kapitalistische Nation.
Mit der Herausbildung der sozialistischen Nation
beschleunigt sich die gesellschaftliche Entwickelung im nationalen und
internationalen Rahmen. Es vollzieht sich ein rascher Aufschwung der
Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sowie der sozialpolitischen
Aktivitäten der sozialistischen Nation. Die sozialistische Nation
gewinnt zugleich ein neues Verhältnis zu den anderen Nationen. Wenn für
die Beziehungen zwischen den kapitalistischen Nationen Feindschaft,
Streben nach Unterdrückung, Übervorteilung und Ausbeutung anderer
Nationen charakteristisch sind, so werden die Beziehungen zwischen den
sozialistischen Nationen durch die Prinzipien des proletarischen
Internationalismus bestimmt. Die sozialistische Nation und die
nationalen Beziehungen im Sozialismus sind durch die Wechselwirkung
nationaler und internationaler Züge charakterisiert. Dabei wächst das
spezifische Gewicht des Internationalen mit der weiteren Entwicklung des
reifen Sozialismus und seinem allmählichen Übergang zum Kommunismus. Im
Ergebnis dieses Prozesses entsteht eine internationale Gemeinschaft
gleichberechtigter Nationen. Auch in der kommunistischen
Gesellschaftsformation wirken zwei Tendenzen in der
Entwicklung der Nation und der nationalen Beziehungen. Sie ergeben sich
historisch aus den bereits charakterisierten Tendenzen des Kapitalismus,
gewinnen aber im Sozialismus einen qualitativ neuen Inhalt: 1. die
Tendenz zur freien nationalen Entwicklung durch das beständige Aufblühen
der Nation; 2. die Tendenz zur ständigen allseitigen Annäherung der
Nationen mit dem schließlichen Resultat ihrer Verschmelzung in der
späteren Zukunft.
Diese beiden Tendenzen entwickeln sich im Sozialismus
in harmonischer Wechselwirkung, wobei die Tendenz zur Annäherung der
Nationen führend ist. Hierdurch entsteht der sozialistische Typ der
Internationalisierung des gesellschaftlichen Lebens, der frei von
Antagonismen ist. Die Annäherung der sozialistischen Nationen und die
Schaffung einer internationalen Gemeinschaft vollzieht sich auf der
Grundlage der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus und unter
Beachtung der Souveränität und Gleichberechtigung sowie der Interessen
jeder Nation. Die internationale Gemeinschaft der sozialistischen
Nationen entwickelt sich als Staatengemeinschaft. Von entscheidender
Bedeutung ist dabei die sozialistische ökonomische Integration, welche
zur Herausbildung einer sozialistischen Weltwirtschaft führt und
zugleich den Fortschritt der nationalen Wirtschaften beschleunigt. Die
Annäherung der sozialistischen Nationen ist in komplizierter und
langwieriger Prozess. Er erfolgt in allen Lebensbereichen der
Gesellschaft und führt allmählich zu einer Angleichung des ökonomischen
Entwicklungsniveaus der einzelnen Nationen. Nationale Unterschiede
werden jedoch noch lange Zeit bestehen bleiben. Sie können erst im
Ergebnis einer längeren Entwicklung im Kommunismus verschwinden, nachdem
die Annäherung der Nationen zu ihrer völligen Einheit und schließlich
zu ihrer Verschmelzung geführt haben wird. Daraus folgt,
dass die Nation noch für einen langen geschichtlichen Zeitraum eine
notwendige Struktur- und Entwicklungsform der Gesellschaft bleiben wird.
Der wissenschaftliche Kommunismus weist alle Angriffe auf die Nation
und die nationale Souveränität zurück und wendet sich entschieden gegen
alle Versuche, die Annäherung der sozialistischen Nationen zu hemmen
oder ihre Verschmelzung gewaltsam zu forcieren.
Bürgerlich-kosmopolitische Vorstellungen von der
Schaffung eines übernationalen „Weltstaates“ haben mit der
marxistisch-leninistischen Theorie und dem sozialistischen
Internationalismus nichts gemein. Sie spielen nur dem Imperialismus in
die Hände und richten sich objektiv gegen die freie Entwicklung der
sozialistischen Nation und der jungen Nationalstaaten. …
Auszug aus „Kleines Politisches Wörterbuch“ sechste Auflage, Dietz Verlag Berlin 1986, seite 632 – 637
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